26. November 2012

Helmut Lachenmann: “Zwei Gefühle”

Verlangen nach Erkenntnis

So donnernd brüllt nicht das stürmische Meer, wenn der scharfe Nordwind es mit seinen brausenden Wogen zwischen Scylla und Charybdis hin und her wirft, noch der Stromboli oder Aetna, wenn die Schwefelfeuer im gewaltsamen Durchbruch den großen Berg öffnen, um Steine und Erde samt den austretenden und herausgespieenen Flammen durch die Luft zu schleudern, noch auch die glühenden Höhlen von Mongibello, wenn sie beim Herausstoßen des schlecht verwahrten Elements rasend jedes Hindernis verjagen, das sich ihrem ungestümen Wüten entgegenstellt …

Doch ich irre umher, getrieben von meiner brennenden Begierde, das große Durcheinander der verschiedenen und seltsamen Formen wahrzunehmen, die die sinnreiche Natur hervorgebracht hat. Ich wand mich eine Weile zwischen den schattigen Klippen hindurch, bis ich zum Eingang einer großen Höhle gelangte, vor der ich betroffen im Gefühl der Unwissenheit eine Zeit lang verweilte. Ich hockte mit gekrümmtem Rücken. Die müde Hand aufs Knie gestützt beschattete ich mit der Rechten die gesenkten und geschlossenen Wimpern. Und nun, da ich mich oftmals hin und her beugte, um in die Höhle hineinzublicken und dort etwas zu unterscheiden, verbot mir das die große Dunkelheit, die darin herrschte. Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte, erwachten plötzlich in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.

(Leonardo da Vinci, Codex Arundel, AR. 155r., R 1339 | Deutsche Übertragung von Kurt Gerstenberg)

Helmut Lachenmann | „… zwei Gefühle …“, Musik mit Leonardo (1992)

Fragen der kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen des Hörens, der Wahrnehmung, aber auch des Schaffens von Musik selbst bilden einen wichtigen Bezugspunkt für Helmut Lachenmanns musikalische Poetik. Aus der Überzeugung, dass musikalisches Material – vor allem vor dem Hintergrund massenkultureller Phänomene – bereits vor dem eigentlichen Zugriff des Komponisten „expressiv geprägt“, also gesellschaftlich vorbestimmt und einem meist korrumpierten und selten reflektierten Schönheitsbegriff unterworfen sei, entwickelte Lachenmann eine komplexe Klangrealistik, die ihre musikalischen Mittel kritisch hinterfragt und Stereotype aufbricht. In seiner „Musique concrète instrumentale“ geriet der „normal“ gespielte Ton zur Ausnahme, zu einer akustischen Möglichkeit unter vielen. „Das Ganze“, so Lachenmann zu seinem Schönheitsbegriff, „wird zur ästhetischen Provokation: Schönheit als verweigerte Gewohnheit.“

Seit Lachenmann die Idee einer „Musique concrète instrumentale“ formulierte,
sind nun schon viele Jahre vergangen. Mechanismen und Funktionsweisen der Wahrnehmung beschäftigen ihn aber nach wie vor. So etwa auch in dem 1992 – im Zeichen der Erinnerung an den einstigen, kurz zuvor verstorbenen Lehrer Luigi Nono und großenteils in dessen leer stehenden Haus auf Sardinien – entstandenen Melodram „… zwei Gefühle …“, Musik mit Leonardo für zwei Sprecher und Ensemble, das Lachenmann später auch für einen Sprecher umarbeitete. Dem Part der (des) Sprecher(s) legte er den Text Die Höhle von Leonardo da Vinci in der deutschen Übertragung von Kurt Gerstenberg (mit dem Titel Verlangen nach Erkenntnis) zugrunde. Dieser erzählt von der zufälligen Entdeckung einer Höhle und den zwei Gefühlen: der „Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle“ und dem „Verlangen […] mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.“ Beigefügt ist dieser Erzählung jener Text aus Nietzsches Also sprach Zarathustra, den bereits Gustav Mahler in seiner dritten Symphonie verwendete („Oh Mensch! Gib acht!“). Der Text Leonardos ist zerlegt in eine zerklüftete Struktur von Sprachsplittern, die der Sprecher, so Lachenmann, „wie eine kostbare Inschrift ertastet, indem er deren Sprachpartikel einzeln ergreift und schlecht und recht vor seinem Gedächtnis zusammenfügt […].“ Während der Sprecher den Text gleichsam abtastet und bruchstückhaft wiedergibt, ist es dem Hörer überlassen, den Textsinn „quasi melodisch“ zu „rekonstruieren“ (Eberhard Hüppe).

„Meine Arbeit an diesem Stück“, schreibt Lachenmann, „ging von der Erfahrung aus, dass gerade das ‚strukturell‘ gerichtete Hören, das heißt das beobachtende Wahrnehmen des unmittelbar Klingenden und der darin wirkenden Zusammenhänge, verbunden ist mit inneren Bildern und Empfindungen, die von jenem Beobachtungsprozess keineswegs ablenken, sondern untrennbar mit ihm verbunden bleiben und ihm sogar eine besondere charakteristische Intensität verleihen. Es ist die eigenartige Situation, wo beim Dechiffrieren einer uns betreffenden Nachricht die unmittelbare Wahrnehmungsarbeit: das – möglicherweise mühsame – Erkennen und Zusammentragen der Zeichen einerseits und die Kraft der sich abzeichnenden Botschaft andererseits tatsächlich eng zusammengehören, gar einander bedingen und einen geschlossenen Erlebniskomplex bilden.“ (Andreas Günther)

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5. Dezember 2012 | 20.00 Uhr
Köln | Funkhaus am Wallrafplatz
musikFabrik im WDR
Konzerteinführung: 19.30 Uhr
44 | Zwei Gefühle

Pierre BoulezDouze Notations pour piano (1945) | Bearbeitung für
Ensemble von Johannes Schöllhorn (2011)

Johannes SchöllhornLa Treizième (2011) | Hommage à Pierre Boulez
für Ensemble

Johannes Schöllhornpièces croisées (2012)Uraufführung
Neun Bagatellen für großes Ensemble | Kompositionsauftrag von Kunststiftung NRW und Ensemble musikFabrik

Helmut Lachenmann„… zwei Gefühle…“, Musik mit Leonardo. (1992)
für zwei Sprecher und Ensemble

Helmut Lachenmann | Sprecher
Ensemble musikFabrik
Peter Rundel | Dirigent

Karten für das Konzert sind erhältlich über: KölnTicket.
Das 44. Konzert der Reihe “musikFabrik im WDR” findet im Rahmen von “ONtemporary” statt.

Programmheft

Zusatzveranstaltung vor dem Konzert:

18.30–19.30 Uhr: Dr. Rainer Nonnenmann im Gespräch mit Prof. Dr. h.c. Helmut Lachenmann
Ringvorlesung der Hochschule für Musik und Tanz Köln zum Thema:
„Musik als Text und als Situation:Nono, Stockhausen, Ligeti“