6. März 2024

Mit dem Prozess arbeiten

Christine Chapman und Marco Blaauw im Gespräch mit Kamila Metwaly, künstlerische Leiterin von MaerzMusik:

Marco Blaauw: Kamila, wie bist du auf die Spuren von Lucia Dlugoszewski gekommen? Wie hast du sie entdeckt?

Kamila Metwaly: Das ist eine interessante Anekdote, denn ich bin durch die Arbeit von Pauline Oliveros auf ihre Arbeit gestoßen. Das Eingangszitat des Buches von Oliveros, „Deep Listening“, ist ein Zitat von Dlugoszewski:

„Das erste Anliegen aller Musik ist es, auf die eine oder andere Weise die Gleichgültigkeit des Hörens, die Gefühllosigkeit der Empfindsamkeit zu erschüttern, jenen Moment der Lösung zu schaffen, den wir Poesie nennen, unsere Starrheit aufzulösen, wenn wir in gewissem Sinne zum ersten Mal hörend wiedergeboren werden.“
Lucia Dlugoszewski

Das war für mich ein neuer Name. Ich kannte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich habe das Buch gelesen und diese Bemerkung jahrelang völlig vergessen. Dann, eines Tages, saß ich da und dachte nach: „Wer ist sie? Ich habe keine Ahnung, wer diese Person ist.“ Es war dieses spezielle Zitat, das so viel Einblick in das Zuhören im Zusammenhang mit Oliveros bot. Insofern, dass sie den Unterschied zwischen dem rein physischen Akt des Hörens durch den Körper, durch die Ohren, und eher einem momentanen oder einem situierten Zuhören, das von sehr unterschiedlichen Elementen beeinflusst wird, erforscht. Und dann habe ich angefangen, mich mit der Arbeit von Dlugoszewski zu beschäftigen und versucht, die Quelle des Zitats zu finden, das ich absolut faszinierend fand.

Christine Chapman: Was war die erste Musik, die du gehört hast?

KM: Space is a Diamond. Das war umwerfend, ehrlich gesagt. Es war sehr interessant, und gleichzeitig hat mich die anfängliche Recherche beinahe schon abgeschreckt. Das war, bevor das Buch von Amy Beal, Terrible Freedom, herauskam, und es war sehr schwer, mehr Informationen über sie zu finden. Also grub ich weiter und weiter, las hier und da ein paar Geschichten und stieß auf ein paar interessante Artikel in der New York Times. Es hörte sich so an, als sei sie sehr präsent gewesen, aber niemand war in der Lage, die Musik wirklich zu verstehen. Denn wenn man nur ein paar Werke von einer Komponistin hört, kann man nicht wirklich eine vollständige Geschichte der musikalischen Sprache und der Bedeutung ihres Werks konstruieren. Ja, es ist toll, dass Wikipedia schreibt, dass sie Instrumente erfunden hat … Na und? Das bedeutet gar nichts, solange man nicht versteht, welchen Zweck diese Instrumente für sie und ihr Werk haben.

MB: Wie ist dann das Festival MaerzMusik auf das Ensemble Musikfabrik gekommen?

KM: Der Auslöser war eure Arbeit mit Harry Partch. Wir haben lange überlegt, wen wir einladen können, der sich auch auf einen Forschungsprozess einlassen kann. Wer kann ein Projekt übernehmen, bei dem es nicht um die bloße Rekonstruktion oder Präsentation eines Konzertformats geht, sondern um eine umfassende Erforschung der Philosophie des Werks der Komponistin. Denn das ist es, wonach wir gesucht haben. Wir haben versucht, einen geeigneten Mitstreiter und Partner zu finden, der sich mit diesen Fragen auseinandersetzt und dieses Projekt über die bloße Präsentation eines Festivals hinausführt. Eure Arbeit im Allgemeinen und die Offenheit, mit Klang, Form und Musik zu experimentieren, standen also bei der Einladung im Vordergrund. Aber vor allem die Sensibilität, mit der Ihr mit diesen sehr fragilen Geschichten oder Materialien und Konturen arbeitet, war der Hauptgrund, Euch einzuladen. Und deshalb haben wir bei Euch angeklopft, und wir sind sehr froh, dass Ihr unsere Einladung angenommen habt.

MB: Eure Einladung fiel natürlich auf fruchtbaren Boden, denn einige von uns waren Dlugoszewski bereits auf individuellen Forschungspfaden begegnet, und dann liegt da plötzlich dieses fantastische Geschenk auf dem Tisch.

CC: Ich finde es faszinierend, dass du und das Festival uns als Musiker*innen gebeten haben, zu recherchieren, buchstäblich in die Libary of Congress in Washington D.C. zu gehen und eine Woche lang in den Partituren, Noten und Skizzen zu wühlen. Das war eine fantastische Erfahrung für mich als Künstlerin.

KM: Das ist wirklich toll zu hören.

MB: Mich fasziniert auch der Weg zu Konzert. Normalerweise beginnt ein neues Projekt mit Proben, dann spielen wir das Konzert. In diesem Fall beginnt das Projekt mit der Recherche. Es nimmt langsam gestalt an, was spannend ist, weil der Produktionsprozess so anders ist. Wir haben viele Dinge in der Library of Congress entdeckt. Du wirst ebenso bald die Library of Congress besuchen, was erwartest du zu entdecken? Worauf wirst du dich konzentrieren, wenn du sie aufsuchst?

KM: Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht ganz sicher. Die Frage ist, was sind die Geschichten, die all diese Werke vervollständigen und sie miteinander verbinden? Wir können Dlugoszewski nicht in diesem einen zweistündigen Konzert definieren, das wir präsentieren werden. Es ist nur die Spitze des Eisbergs ihrer Arbeit und ihrer Person. Ich denke, es ist eine sehr sensible Arbeit, Komponist*innen wieder in das Repertoire der zeitgenössischen Musik oder der Musik im Allgemeinen einzuführen, ohne in ein Projektdenken zu verfallen, wie „Das ist ein Projekt, und dann machen wir ein anderes Projekt“ – vor allem bei Komponist*innen, die nicht so bekannt sind. Oder die dann die neuen Mavericks der zeitgenössischen Musik werden. Es bedarf Fingerspitzengefühl. Wie stellen wir sie also wieder vor, weil es sie schon immer gab, und wie spannen und präsentieren wir den größeren Bogen, der sie ausmacht? Denn all diese Geschichten, all die biografischen Notizen über ihre Bewegungen, ihre Beziehung zu Erick Hawkins, die Choreografie, ihre eigene Körperlichkeit während der Aufführung und das Timbre-Piano auf der Bühne, all diese Aspekte sind meiner Meinung  nach wesentlich, um die Musik vorzustellen, die ihre philosophische Suche wirklich aufgreift. Vielleicht ist es das, was ich finden möchte: Bruchstücke, die wir verwenden können, um ihr Porträt in Berlin zu konstruieren.
Wie ihr erzählt habt, ist es eine riesige Bibliothek und wir hatten nur eineinhalb Jahre Zeit – was sehr wenig ist, um über jemanden nachzudenken, die ein Repertoire mit Arbeiten besitzt, die bis in die 1950er-Jahre zurückreichen. Und die Werke ändern sich auch. Sie sind nicht statisch – manchmal sind sie es, aber oft wachsen sie auch. Sie werden dekonstruiert, sie werden zu etwas anderem.

MB: Es ist ein bisschen wie das umschreiben der Geschichte: Wir haben die tatsächlichen Ergebnisse ihres Lebens in Kisten, und wir können in sie eintauchen. Es gibt viele Anekdoten… Ich wusste einiges über „Space is a Diamond“, und als ich die „Space is a Diamond“-Box öffnete, fand ich ganz anderes Material, das der Geschichte widersprach, die ich oft gehört hatte. Das Stück wurde eigentlich umfassend geplant und skizziert, dann sorgfältig komponiert und sogar budgetiert. Wir fanden ein kleines Budgetblatt mit Honoraren für die Tänzer*innen, Honoraren für die Choreografie, Honoraren für die Kostüme, Honoraren für den Trompeter. Das ist erstaunlich, und die Skizzen, die sie gemacht hat, sind erstaunlich. Ich finde, sie sind so schön, dass man sie einrahmen könnte.

© Archivmaterial/Courtsey of The Library of Congress and the Erick Hawkins Dance Company

CC: Das wird eine interessante Sache für dich sein, Kamila, denke ich. Es gibt eine unglaubliche Menge an Material aus der Zeit der Produktion. Als sie schrieb, komponierte – sie hatte diesen ganzen Prozess des Skizzierens von Bewegungen, Ideen und Klängen, die als Landkarten bezeichnet werden. Es sind große Blätter. Es sieht ziemlich chaotisch aus, definitiv chaotisch und vielleicht willkürlich. Aber wenn man sie sich eine Weile ansieht, bemerkt man einen echten Sinn für Rhythmus in den Bewegungen auf dem Blatt. Man sieht, wie sehr ein Teil ihres kreativen Prozesses die Bilder aus dem Leben in der Tanzkompanie mit Erick Hawkins waren, wie sie die Körper in Bewegung sah und wie sie das in ihren kreativen Prozess einfließen ließ. Ich glaube, das kann man in einigen dieser Karten sehen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass du, wenn du wieder in die Library of Congress gehst, einige der Karten fotografierst oder scannst, die für diese Ideen beispielhaft zu sein scheinen.

KM: Das klingt wunderbar!

CC: Man erfährt auch mehr über einige der Titel der Stücke, die wie eine zufällige Ansammlung von Wörtern wirken, es aber eigentlich nicht sind.

KM: Das ist definitiv etwas, auf das ich neugierig bin: die Herkunft der Titel. Denn es klingt überhaupt nicht zufällig, oder? Hinzu kommt, dass einige der Werke zwei Titel haben, einen für Tanz und einen für die Musik. Ich denke, dass sie als Komponistin ihren eigenen Weg finden wollte. Die meisten dieser Arbeiten wurden jeweils mit Tanz als auch ohne Tanz, als reine Konzertformate, präsentiert. Das ist essentiell, denn sie war nicht einfach nur ein Schatten Hawkins. Das ist absolut faszinierend. Es ist ein wesentlicher Teil ihres Werks. Eine Facette oder Realität, die sehr stark eingebettet ist in viele philosophische Fragen, die ihre Musik, ihr Schreiben, ihre Titel und das, was man in jeder Biografie liest, wenn sie zum Beispiel über „suchness“ spricht, durchziehen. Es ist faszinierend, über ihre Beziehung zum Klang als Quelle und Material nachzudenken und was das für sie bedeutet.

MB: Eine Frage zum Festival – es ist fantastisch, dass ihr die Werke von Dlugoszewski präsentiert. Ist es für euch eher ein Prozess des Schaffens oder ein Prozess des Wiedererschaffens? Kannst du dazu etwas sagen?

KM: Ich denke, es ist beides. Ich denke, es ist auch sehr einzigartig für euch als Ensemble Musikfabrik. Und diese Zusammenarbeit ist mitunter der spannendste Teil des Projekts. Es wird durch eure Anwesenheit einzigartig sein: eure Herangehensweise, eure Lesung, eure Performance – eure Präsenz auf der Bühne zusammen mit dem Tanz. Wir haben uns natürlich viele Gedanken gemacht, und zwar über beides: Einerseits präsentieren wir ihre Arbeiten in einem Kontext, der eine Hommage an ihr Werk darstellt. Und wir hören das Werk als etwas, das in gewisser Weise statisch ist, gebunden an eine Partitur oder an die Interpretation einer Aufnahme. Bei unserem anderen Ansatz ging es darum, all diese Kuriositäten von Dlugoszewski auf vielleicht neue Instanzen und Nuancen auszuweiten. Wir haben darüber nachgedacht, wie man dieses Wissen auch in die – sagen wir – Zukunft übertragen kann. Als wir zum Beispiel Edivaldo Ernesto eingeladen haben, eine neue Choreografie zu kreieren. Wir sahen darin nicht nur eine neue Schöpfung, sondern betrachteten es als neugierigen Blick in die Transzendenz und Transformation der Hawkins/Dlugoszewski-Technik, ihrer Ästhetik, Form und Neuerungen.
Ähnlich wird es auch mit der Musik sein, entweder mit einigen ihrer Werke, die etwas abstrakter sind, oder mit den Auftragswerken. Wir dachten, es wäre auch ein interessanter Moment, Komponist*innen, die nichts über Dlugoszewski wissen, einzuladen, ein Element in ihrer Musik, ihrem Werk, ihrem Klangspektrum und ihrer Philosophie zu finden, das für sie interessant wäre, es zu erforschen. Das ist wirklich schön, denn es gibt dieses Moment, wenn es nichts endgültiges gibt. Wisst ihr, was ich meine? Wir präsentieren keine Exzellenz, wir präsentieren kein bloßes Produkt, das man bewegen kann. Jedes mal, wenn das Ensemble diese Stücke aufführt, bin ich sicher, dass Euch etwas Neues einfallen wird. Vielleicht wird die Aufführung von Space is a Diamond beim nächsten Mal anders sein; sie wird in einen anderen Raum getragen. Wir haben uns erlaubt, mit dem Prozess zu arbeiten.

MaerzMusik 2023 © Fabian Schellhorn

CC: Apropos Prozess – ich bin sehr neugierig, wie die Tanzproben mit Katherine Duke vor ein paar Wochen gelaufen sind. Kannst du uns eine Zusammenfassung geben?

KM: Es war sehr schön, denn es war einerseits ein Vortanzen, andererseits aber auch eine Art Workshop. Katherine hat Erick Hawkins’ Kernkonzepte der Bewegung in Bezug auf den Körper erklärt. Das ist einzigartig für MaerzMusik, weil wir normalerweise nicht produzieren; wir haben diese Kapazitäten nicht. Ich denke also, dass es sehr wichtig ist, dass wir dieses Projekt machen, weil es auch die Art und Weise beeinflusst, wie wir als MaerzMusik arbeiten. Wir werden zu einer anderen Art von Gastgeber*in. Der Audition-Workshop war sehr offen und eine Art Sitzung über die Beziehung zwischen der Komponistin und dem Choreografen. Viele Tänzer*innen sagten, es erinnere sie an ihre klassische Ausbildung. Das macht Sinn: Wir haben es in gewisser Weise mit einem Klassiker und einer klassischen Ästhetik zu tun. Sie waren also neugierig darauf, wie sie ihre Praxis als Tänzer*innen, die in experimentelleren Tanztechniken ausgebildet sind, mit diesem klassischen, für Hawkins spezifischen Ansatz verbinden können.
Katherine Duke wird in den von ihr geleiteten Choreografien so viel wie möglich rekonstruieren, denn wenn man dem Original Tribut zollt, hielte ich es für wichtig, sich auf Erick Hawkins zu konzentrieren. Dazu gesellt sich die Arbeit Edivalo Ernestos in den Choreografien, die er kreiert.

© Archivmaterial/Courtsey of The Library of Congress and the Erick Hawkins Dance Company

Andererseits halte ich es für eine sehr gute Entscheidung, diese zwei Konzerte zu veranstalten: eines, das sich nur auf die Musik konzentriert, so dass die Leute sich ohne optische Ablenkung in Dlugoszewskis Repertoire vertiefen können, und dann einige der Werke mit Tanz zu präsentieren, um auch ihre Kollaborationen in diesem Bereich aufzuzeigen.

MB: Dlugoszewski hat die meiste Zeit ihrer Karriere im Schatten von Erick Hawkins gearbeitet, deshalb präsentieren wir ihre Werke ganz bewusst allein im vollen Licht der Konzertbühne.