Sizi Uilu Stillo

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Bernd ThewesSizi Uilu Stillo (1994)
für Posaune und Tastenpercussion

Bruce Collings, Posaune
Benjamin Kobler, Keyboard-Percussion
Janet Sinica, Video
Jan Böyng, Schnitt
Julius Gass, Tonaufnahme/Mischung

Programmtext von Bernd Thewes

Die Lorscher Handschrift
althochdeutsch/rheinfränkisch

Kirst, imbi ist huze! nu fliuc du, uihu minaz, hera
fridu frono in godes munt heim zu commone gisunt.
sizi sizi bina! inbot dir sancte Maria
hurolob ni habe du zi holce ni fluc du,
noh du mir nindrinnes noh du mir nintuuinest.
sizi uilu stillo uuuirki godes uuillon!

Übersetzung:
Christus, das Bienenvolk ist heraußen (= ausgeschwärmt)!
Jetzt fliegt, meine Tiere (mein Vieh), wieder herbei,
damit ihr im Frieden des Herrn, im Schutz Gottes,
gesund heimkommt.
Sitz, sitz, Biene. Das gebot dir die heilige Maria.
Du sollst keine Erlaubnis (= Urlaub) haben,
zum Holz (= in den Wald) zu fliegen,
du sollst mir weder entwischen noch entweichen.
Sitz ganz still und tu, was Gott will (wirke Gottes Willen)!

uihu – Vieh, Tier(e)
ind-rinnan (n = Negation) – entrinnen, entwischen
int-uuinnan = entweichen

Dieser in einer alten vatikanischen Handschrift überlieferte, als „Lorscher Spruch“ bekannte Text, bei dem sich christliche und magische Elemente überlagern, interessierte mich wegen seiner eigenartigen Zentralmetapher, dem Befehl an die Bienen, nicht in den Wald zu fliegen, sondern still zusitzen und Gottes Willen zu erfüllen. Die Bienen, deren mythologische Symbolik weit in die alte griechische und ägyptische Kultur zurückreicht und auch im 20. Jahrhundert noch präsent ist (Maeterlinck, Joseph Beuys), zum Stillsitzen zu verdammen, erscheint mir als Parabel auf die Lebensfeindlichkeit des Versuches, die Welt als rationales und geordnetes Objekt (totes Ding) zu begreifen; der Text wirkt auf mich wie eine ironische Kritik an europäischer Wissenschaftlichkeit in ihren Anfängen. Nebenbei bemerkt waren zu jener Zeit auch die ersten Experimente gelungen, musikalische Ereignisse durch Notationsweisen schriftlich „einzufrieren“. Die fühlbare Spannung im Bild vom Stillstand als verhinderter Bewegung ist der quasi energetische Kern meiner Komposition, die formal als Paraphrase eines metrischen ostinaten Gerüstes beschrieben werden könnte: Vor dem Hintergrund einer karussellartigen Metrik verläuft die Klangentwicklung, die auch lautliches Material des Orginaltextes verarbeitet, assoziativ fortschreitend vom Anfang bis zum Ende.

(Bernd Thewes 1995)