© Kai Bienert

Yes

Rebecca Saunders

Yes bezieht sich auf den Monolog der Molly Bloom, das letzte Kapitel in James Joyces’ Ulysses. Dieser Monolog kann als eine Art literarische Collage betrachtet werden, als ein Gewebe aus zahllosen Pfaden von Erzählungen, Gedanken und Momenten in einem kontinuierlichen, gnadenlosen Fluss hoher Energie – eine Momentaufnahme, ein Zustand vor und während des Einschlafens und in der Dämmerung des Unterbewusstseins.

Zwischen Momenten der An- und Abwesenheit fließend, ist der Text nicht immer hörbar und bleibt oft subkutan, aber stets spürbar und präsent. Der Monolog wird häufig gesungen, aber auch von der Sopranistin und den Instrumentalist*innen rezitiert, sei es im Ein- oder Ausatmen, halb geflüstert, fast geräuschlos oder unterdrückt hinter vorgehaltener Hand. Mitunter tauchen einzelne Worte oder Textteile auf, werden sichtbar, hörbar und verständlich, verschwinden dann aber wieder im Fluss der Musik – so wie auch in Molly Blooms innerem Monolog, in ihrem Gedankenstrom Momente ihrer Biographie, ihrer Persönlichkeit, ihrer Erinnerungen vorübergehend Gestalt annehmen, um dann wieder in den Strom der Zeit abzutauchen.

In der Arbeit mit der Stimme, mit ihren Grenzen und dem Bedürfnis zu atmen lässt sich eine ungeschönte menschliche Verletzlichkeit zeigen, eine intime Unmittelbarkeit – und beim Erkunden verschiedenster Wege, mit dem Atem umzugehen, eröffnete sich eine ganz neue Welt klanglicher und emotionaler Möglichkeiten. Sinn der verschiedenen Formen der Textrezitation ist unter anderem, den Monolog in eine Vielzahl klanglicher Oberflächen zu verwandeln bzw. ihn darunter zu verbergen. Diese „sound surfaces“ werden dann von der Musik angedeutet, aufgegriffen und neu kontextualisiert. Auch wenn Yes nicht auf konkrete Bedeutung angelegt ist, lässt das Zusammenspiel von Text und Musik inhaltliche und emotionale Zusammenhänge des Textes zum Vorschein kommen.

Das sich wiederholende „Yes“ ist vieldeutig und komplex, wirft viele Schatten und verweist auf verschiedene Themen: auf den Moment des Orgasmus im Halbschlaf; auf das lebensbejahende „Yes“; auf das „Yes“, das das Annehmen des Schicksals besiegelt; auf Blooms Erinnerung an unzählige sexuelle Begegnungen. Diese zutiefst erotischen Momente mit ihren romantischen bis ernüchternd grotesken Facetten werden im Text in unterschiedlichen Schattierungen abgebildet, verlaufen ineinander oder überlagern sich. Yes beleuchtet einige der freizügigsten Passagen des Monologs, um einen züchtigen, klischeehaften Eindruck von Molly Bloom zu vermeiden, und dringt dabei bis in die Abgründe des Joyce’schen Textes vor, deren geballte sexuelle Energie sich jeder Definition von Geschlecht oder Gender verweigert.

Eine Sängerin steht auf der Bühne – ein an sich schon theatralisches Moment. Der menschliche Körper, die Erwartung an ihn, jede Bewegung der Augen oder der Mundwinkel – darin liegt endlos viel Potential verborgen. In Yes werden Sopranistin wie Instrumentalist*innen als Protagonisten in einer Art abstraktem Theater betrachtet. Sie agieren in einer gemeinsamen akustischen Landschaft. Die 28 einzeln komponierten Solo-, Kammermusik- und Ensemblestücke – die Module – sind im Raum verteilt und werden in räumlicher und musikalischer Polyphonie collagenartig miteinander kombiniert.

Fast jedes Modul stellt einen in sich unveränderlichen Zustand dar, mit erschöpfender Beharrlichkeit, anhaltend und im Wesen immer gleich. Wiederholte Klangfragmente, beständig leicht variiert, erschaffen allmählich ein umfassendes Bild. Es entsteht eine riesige Skulptur, ein Mobile, das unberührt verharrt, während man es aus verschiedensten Perspektiven betrachtet: Das Licht verändert sich, wie sich auch der Fokus und die Position der Wahrnehmung ändern, wie sich Nähe und Distanz zum Objekt abwechseln – eine manifeste komplexe Dehnung des einen Gegenstandes.

Yes entwirft eine Musik, die aus dem Fluss der Zeit heraustritt, die wie eine Klangskulptur in den Raum projiziert wird – und im Moment des Zuhörens einen absoluten Fokus auf die physische Präsenz des Klangs anstrebt.
Rebecca Saunders, 2017

© Kai Bienert
© Kai Bienert
Musikfest Berlin 2017 © Kai Bienert

Termine

Die Uraufführung von Yes fand am 9.9.2017 beim Musikfest in der Berliner Philharmonie statt.

Die französische Erstaufführung fand am 28.9.2017 beim Festival d’automne à Paris statt.

Die britische Erstaufführung erfolgte am 16.11.2018 zum Eröffnungskonzert des Huddersfield Contemporary Music Festival in der Town Hall Huddersfield.

Die österreichische Erstaufführung fand am 17.11.2023 im Rahmen des Festivals Wien Modern im Wiener Konzerthaus statt.

Weitere Aufführungen

Kunstfestspiele Herrenhausen, Galerie Herrenhausen, Hannover

06.05.2023 ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln

24.11.2023 Elbphilharmonie, Hamburg

 

Pressestimmen

Eigentümlich heisere Klänge oft von falsettierender Bassflöte oder Bassklarinette. Gestopfte Trompete kann sich wie ein Firnis darüber legen, ein Pochen der großen Trommel hindurchtönen aus einer entlegenen Ecke des Raumes. Häufiger noch lässt sich in dieser Aufführung ein Klang kaum mehr orten. Wo kommt er her, welche Instrumente erzeugen ihn? Rebecca Saunders’ Reichtum an klanglichem Vokabular ist dabei überwältigend. Dass sie dieses Vokabular gemeinsam mit den Musikern des Ensembles entwickelte, trägt entschieden zur klanglichen Schönheit bei. Es sind die persönlichen Klänge der Musiker.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2017)

Rebecca Saunders eröffnet ein breites, expressives Spektrum, ohne Anleihen bei vertrauten Espressivo-Ritualen aufzunehmen. Die enorm einfallsreiche, originelle und souverän umgesetzte Vision, teilweise dirigiert von Enno Poppe, fand beim Publikum […] großen Anklang.
(Berliner Zeitung, 11.09.2017)

Wenn sich die Sopranistin und die Instrumentalisten auf der Bühne und den Rängen verteilen, entstehen gerade im zweiten Teil eindrucksvolle Raumklangwirkungen.
(Der Tagesspiegel, 11.09.2017)

In Yes’s strongest moments, Saunders plays the Philharmonie’s chamber music hall like an instrument: rustling percussion creates atmosphere from an upper balcony, while the piano becomes a bed of resonance for two quarrelling trumpets.
(Financial Times, 11.09.2017)

Saunders arbeitet konzentriert am einzelnen Ton und dabei mit der Klangqualität unterschiedlicher Instrumente, lässt Töne der einen von anderen aufnehmen, in ihnen aufgehen, sodass die eigentliche Quelle der Klangerzeugung hinter dem Klang selbst verschwindet.
(taz, 15.09.2017)

Puis ils se déplacent pendant les soixante-dix minutes que dure l’oeuvre , selon un ballet réglé au cordeau par le chef Enno Poppe, à la tête des musiciens de l’ensemble allemande Musikfabrik, don’t l’imagination sonore est sans limites. […]
(Le Figaro, 3.10.2017)

Cette approche très physique du son crée un théâtre instrumental hypnotique, sans tomber dans la facilité du happening ou du bricolage. Ou comment retrouver la dimension rituelle de la musique.
(Le Figaro, 3.10.2017)

Musique dont l’énergie raffinée s’impose comme une immense sculpture sonore tour à tour compacte ou transparente, Yes compte vingt-cinq modules variés répartis dans l’espace résonnant – « presque tous représentent un état immuable, d’une obstination épuisante, continu et toujours identique ».
(Anaclase, 28.09.2017)

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