Stefan Fricke: Am 30. November 1967 gab es in Köln die Uraufführung der elektronischen Fassung von Karlheinz Stock-hausens »Hymnen«. Waren Sie dabei?
Peter Eötvös: Ich muss dabei gewesen sein, aber ich erinnere mich nicht mehr konkret an diese Premiere. Wichtiger war und ist für mich, dass ich im Studio für elektronische Musik des WDR in Köln die Produktion der »Hymnen« miterleben konnte, obwohl ich damals noch kein Techniker war. Als ich im April 1966 nach Köln gekommen war, um mein Studium an der dortigen Hochschule zu beginnen, meldete ich mich gleich am ersten Tag bei Stockhausen. Und ich durfte natürlich auch ins Studio kommen: »Wir hören uns das an, was wir da machen« [imitiert den Sprechduktus von Stockhausen]. Dort hörte ich sehr sorgfältig zu und war begeistert. Was ich hörte, war unglaublich, es war reich und interessant und für mich sofort verständlich. Deswegen weiß ich nicht, wie die Premiere verlief, denn ich war so intensiv in die Produktion eingebunden. Ich weiß jetzt gar nicht, wo sie stattgefunden hat, im Großen Sendesaal des WDR?
Es war zwar eines der renommierten »Musik der Zeit«-Konzerte des WDR, aber es fand in der Aula des Kölner Apostel-Gymnasiums statt.
Das Apostel-Gymnasium, da schimmert mir etwas. Aber das ändert nichts dran, dass meine Erinnerung an diese Premiere nicht sehr deutlich ist. Denn die Premiere war nicht die erste Begegnung mit den »Hymnen« für mich. Das heißt, es war kein Aha-Erlebnis, sondern es war ein Aha vom ersten Moment an. Besonders die Tatsache, dass ich den Entstehungsprozess miterlebt habe, ändert natürlich den Blick auf das Stück. Zum Bei-spiel, wie hat David Johnson gesprochen, wie hat Karlheinz gesprochen, wie wurden diese Aufnahmen dann verarbeitet, transformiert, wie haben sie die Tonbänder geklebt. Das alles war für mich viel wichtiger als alles andere drum herum.
Sie wurden dann Mitglied des Stockhausen-Ensembles.
Wegen einer Australien-Tournee von Aloys Kontarsky bat mich Karlheinz, dessen Stelle zu übernehmen. So wurde ich allmählich zum Pianisten des Ensembles. Ein Teil unseres Repertoires waren die »Hymnen«. Ich habe also langsam gelernt – langsam heißt in zwei Tagen -, was meine Aufgabe als Pianist in diesem Stück ist. Diese war teils frei, teils festgelegt. Aloys hat mich dann unterwiesen, was er macht und was man machen kann. Und Karlheinz sagte, dann kannst du das und das machen; beim anderen Mal sagte er, finde mal was Schönes usw. Fortan war ich in diese Produktion professionell eingebunden — bis Osaka. Bei der dortigen Weltausstellung 1970 haben wir »Hymnen« während der sechs Monate, die wir da waren, dann x-mal gespielt, vielleicht 50 oder 60mal.
Immer die Fassung mit Solisten?
Ja, meistens war das die Version mit Solisten. Eine pure elektronische Musik nur mit Lautsprechern wäre dem Publikum schwerer zu vermitteln als eine instrumentale Fassung. Es geht besser, wenn die vier Musiker, die Solisten auf der Bühne sind. Aber es ist kein Instrumentalstück mit Tonband, ganz im Gegenteil: Es ist ein Tonbandstück mit gelegentlich instrumentalem Einsatz. Meistens haben wir ungefähr das Gleiche gespielt. Wenn jemand etwas erfunden hat, war das eine große Überraschung, und wir kommentierten das: »Ja, was machst Du denn heute Schönes da?« Als Karlheinz 1969 mit der orchestralen Fassung der »Hymnen« fertig war, zeigte er uns die Partitur und sagte: »Schaut mal, das habe ich gemacht.« Einen kleinen Teil davon prägten seine Erfahrungen mit den Solisten. Bestimmte Passagen in der Instrumentalversion hat er ausgeschrieben, also konkret für die Musiker notiert. An anderen Stellen hat er nur Beziehungen geschaffen zwischen den Ereignissen vom Tonband zu den instrumentalen: In der Partitur notierte er sinngemäß: »Hör zu, nimm ein Element vom Tonband ab und verarbeite es auf folgende Weise: Nimm mehr Glieder, transponiere sie nach oben oder wiederhole einmal die zwei Töne und dann transponiere langsam.« Aber da war ein Gedankenfehler. Für uns Solisten war es selbstverständlich, dass wir dem Tonband die ganze Zeit über zuhörten. Bei den Orchestermusikern war das nicht so. Sie konnten das Tonband effektiv nicht einmal hören, denn die Lautsprecher standen viel zu weit weg von ihnen. Die Lautsprecher waren für das Publikum und nicht für die Musiker eingerichtet. Aber selbst, wenn die Lautsprecher für die Musiker hingestellt worden wären, hätten sie das auch nicht spielen können, denn die Lautsprecherklänge liefern ihnen keine Informationen. Die Solisten waren erfahrene Musiker, die nach Monaten und Jahren Erfahrung und ständigem Zuhören genau wussten, worum es geht. Die Orchestermusiker aber haben maximal eine Woche Probezeit. Ich erinnere mich, dass ich damals zu Karlheinz gesagt habe: »Schreibe einfach die drei oder vier Tönchen hin, von denen du meinst, dass die Orchestermusiker sie hören sollen. Wenn sie das sehen, hören sie das vielleicht auch.« Das war unerhört, er war wirklich dagegen und sagte: »Nein, das müssen sie heraus hören.« Später, nach jahrelanger Erfahrung ist das aber doch gemacht worden. Diese Beispiele stehen jetzt in den Stimmen, sodass sich die Musiker schneller orientieren können, wo sie hinhören müssen.
Die Orchestermusiker haben aber immer noch gewisse Freiheiten.
Die haben bestimmte Freiheiten, sie dürfen innerhalb festgelegter Rahmen selbst entscheiden. “Hymnen” zu spielen ist eine sehr spezielle Aufgabe für Musiker, und sie spielen es gerne, denn das Resultat ist großartig. Die Probezeiten gehen zwar etwas über die normalen Zeiten hinaus, weil man viele Einzelproben machen muss, bis die Musiker diese spezielle Aufgabe verstanden haben. Aber dann geht es. Mit einem Orchester, das es zum ersten Mal macht, braucht man etwas mehr als eine Woche Probezeit. Wenn dieses Stück dann Repertoire würde, das Orchester es öfter spielte, dann bräuchte man beim zweiten, dritten Mal viel weniger Proben, um die»Hymnen« auf die Beine zu stellen.
1968 erhielt Stockhausen von der New York Philharmonic, auf Initiative von Leonard Bernstein, einen Kompositionsauftrag. Stockhausen schlug vor, von den damals in Arbeit befindlichen »Hymnen« eine Version für Orchester mit Tonband zu schreiben. Linccoln Center in New York die Uraufführung dieser Orchesterversion statt – mit New York Philharmonic und Stockhausen als Dirigenten. Sie, Herr Eötvös, waren als Solist und auch als Klangregisseur dabei. War es das erste Mal, dass Sie New York besucht haben?
Ja, ich war zum ersten Mal in New York. Ein Riesenschock. Es waren im Winter, im Februar 1971 wirklich Revolutionszeiten. Es gab sehr viel Krach in der Stadt. Für mich war ganz erstaunlich, dass in den U-Bahnen an jeder Tür ein Polizist stand, um aufzupassen, dass nichts passiert. Es gab sehr viel Gewalt. Ich sah auf der Straße einige Schlägereien, auch total kaputtgeschlagene Autos. Diese Atmosphäre war damals sehr bezeichnend für New York. Nun zu »Hymnen«: Der Probenanfang am Montag war höchst dramatisch. Die New York Times hatte in der Sonntagsausgabe am Tag zuvor ein ganzseitiges Interview mit Karlheinz veröffentlicht, in dem er sich nicht diplomatisch geäußert hatte: Statt zu sagen, dass er sich freuen würde, jetzt mit diesem Orchester zusammenzukommen und so weiter, sagte er fast das Gegenteil: endlich täte dieses Orchester mal was für die Neue Musik. Das war natürlich nicht die klügste Entscheidung, so ein Interview zu geben. Am ersten Probentag herrschte nun eine unglaubliche, ja unerträgliche Spannung zwischen dem Orchester und ihm. Das wirkte sich natürlich auf die Arbeit aus, alles war schwierig und zäh, viele Diskussionen, viele Erklärungen und großer Widerwille seitens der Musiker. Für Karlheinz muss das damals eine sehr schwere Situation gewesen sein. Denn es war auch seine erste Erfahrung mit dem, was er gemacht hat, also er hat zum ersten Mal das Notierte gehört. In der ersten Probe ist es immer sehr schwer auseinanderzuhalten, was der Fehler des Komponisten und was ist der Fehler der Musiker ist, wenn etwas nicht funktioniert.
Es gab dann eine recht lange Probezeit, vermute ich.
Ja, wir haben ziemlich lange geprobt, vielleicht zehn Tage. Im Konzert haben wir die gemischte Version der »Hymnen« gespielt, die für Solisten und Orchester. Und diese unterscheidet sich von der reinen elektronischen Fassung oder von der Version mit Solisten, die beide aus vier Regionen bestehen. Man kann nach der zweiten Region eine Pause machen, dann kommen die Regionen drei und vier. Wenn die Orchesterversion gespielt wird, ist das Stück dreiteilig. In New York haben wir das so aufgeführt, dass der erste und der dritte Teil auch mit Solisten gespielt wurden. Der zweite Teil war nur mit Orchester; hier machte
ich die Klangregie. Deswegen war ich auch bei allen Proben immer dabei.
Wie haben sich die New Yorker Orchestermusiker dann während des Konzerts
verhalten?
Deren Verhalten war wirklich eine Überraschung. Sie haben sich im Konzert ausgetobt.
Heute, nach so vielen Jahren Abstand, ist das nur noch eine Anekdote.
Aber damals war es für das Orchester die einzige Möglichkeit, sich abzureagieren, indem die Musiker beim Konzert allen möglichen Blödsinn machten: Cellisten, diesich das Instrument an den Kopf hielten, sich herumdrehten und zum Publikum hinlächelten, um zu zeigen, welchen großen Quatsch wir hier machen. Das war die Abreaktion von der ganzen Probenzeit, während derer sie sich korrekt verhalten mussten. In New York war die Ordnung des Orchesters so, dass ein Musiker während der Probe nichts sagen durfte. Er konnte nur den Stimmführer benachrichtigen, dass er irgendwelche Fragen hat. Wenn dann der Stimmführer, etwa der 1. Trompeter, dachte, dass er diese Frage an den Dirigenten weiterleiten sollte, dann fragte er: »Maestro, soll der 4. Trompeter an jener Stelle mit Dämpfer spielen oder nicht.« Sehr kompliziert. Während der Probenzeit befand sich das Orchester in einem Zustand passiver Resistenz, im Konzert wurde es nun ein aktiver Widerstand. Das war wirklich schlimm. Aber das gab es tatsächlich nur ein einziges Mal. Ein Jahr nach der New Yorker Premiere fand in Berlin die deutsche Erstaufführung mit den Philharmonikern statt. Und die Berliner Philharmoniker waren unglaublich schnell fertig. Sie wussten schon nach wenige Tagen, was zu tun ist. Dann kamen die nächsten Tage und die Musiker nörgelten: »Was, nochmal? Warum nochmal? Das wissen wir schon.« Die Aufführung war dann ein Wunder. Während der Proben verhielten sich die Musiker so widerborstig und im Konzert dann hochprofessionell. Das war für uns schließlich ausschlaggebend, um festzustellen, dass das Stück wunderbar funktioniert.
Hat Stockhausen in Berlin – die dortige Aufführung war am 31. Mai 1972 – auch selbst dirigiert?
Ja. Und sein Kontakt zu den Musikern war sehr freundlich. Wir haben, wie gesagt, erlebt, dass das Stück funktioniert. Und jede weitere Orchesterproduktion verlief meistens sehr positiv. Wenn Karlheinz es dirigierte, war ich immer als Klangregisseur am Mischpult dabei. Und dann gab es auf einmal eine Überraschung. Michael Gielen sollte mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart die »Hymnen« aufführen. Das war für ein Gastkonzert in Paris am 24. Mai 1977, in dem Gielen auch Bernd Alois Zimmermanns »Konzert für Violoncello und Orchester en forme de pas de trois« mit Siegfried Palm als Solisten dirigieren sollte. Ja. Gleich nach der ersten Probe noch in Stuttgart wurde ich angerufen und gefragt, ob ich schnell kommen könnte, um zu helfen. Das tat ich auch. Das Problem war folgendes: Gielen, der wirklich sehr viel Erfahrung mit Neuer Musik hat, sagte, ich höre nicht das, was ich sehe. Er hatte die Partitur mitgelesen, und es gibt in »Hymnen« hohe, zischende Frequenzen. In der Partitur ist an dieser Stelle eine Melodie notiert, aber sie ist auf den 2.000-Hertz-Bereich gefiltert, und darunter ist nichts. »Wie kann man so etwas hören«, fragte mich Gielen, »wo ist das denn? Das höre ich nicht. Peter, komm, mach du was.« Und dann machte ich in seinem Beisein eine Probe und gleich danach sagte er: »Bitte, das machst du. Du kennst das Stück. Du hast es verstanden und kannst es wunderbar machen.« Das war mein großes Glück damals. Denn dieses Konzert, in dem Gielen dann den Zimmermann und ich die »Hymnen« dirigierte, besuchten die Direktoren vom Pariser IRCAM. Und die sagten: »Den Typ können wir für unserer Eröffnungskonzert engagieren.« 1978 dirigierte ich dann das Eröffnungskonzert des IRCAM mit dem Ensemble Intercontemporain. Daraufhin engagierte mich Pierre Boulez als musikalischer Leiter des Ensembles. So habe ich den »Hymnen« zu verdanken, dass ich meine Dirigenten-Karriere gemacht habe.
Eine Hymne auf die »Hymnen«.
Das kann man so sagen. Ich hatte bei »Hymnen« so oft als Pianist und als Klangregisseur mitgewirkt, dass ich das Stück sehr genau kannte und zwischen Tonband und Orchester wirklich jeden Schlag zusammenhalten konnte, was nicht selbstverständlich ist.
*Das ist ein Auszug eines Interviews, das für das Musikfest Berlins 2012 geführt wurde. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Stefan Fricke und Musikfest Berlin.