27. April 2020

The Music of Unsuk Chin

Lucid sonic objects

Niemand habe sie musikalisch so sehr geprägt wie György Ligeti, sagt Unsuk Chin über ihren Kompositionslehrer. Das hört man auch. Beide, Ligeti und Chin, legen großen Wert auf die Klangfarblichkeit ihrer Musik. Auch einen anderen Aspekt hat das Schaffen beider gemeinsam: bei aller Verschiedenheit sind ihre Klangsprachen jeweils so eigenwillig, dass sie sich gegen eine Einordnung in die stilistischen Entwicklungslinien der neuen Musik sträuben. Für die koreanische Komponistin hatte das zur Folge, dass ihre Werke auf den einschlägigen Festivals der zeitgenössischen Musik nur selten aufgeführt werden.

Dagegen hört man sie häufig im klassischen Konzertbetrieb. Das ist sehr ungewöhnlich für zeitgenössische Musik, zumal Unsuk Chin sich mitnichten anpasst und alles andere als „gefällig“ komponiert. Ihre künstlerische Haltung ist kompromisslos. Wenn sie ein Stück schreibt, geht es ihr nur um die Musik. Ihr sei es ganz gleich, sagt sie, was danach mit dem Werk geschehe. Mit dem schlichten Satz „Ich bleibe einfach ich“ beschreibt sie einen wesentlichen Charakterzug ihrer Arbeit: authentisch zu sein. Ihre Werke strahlen diese Authentizität aus. Darauf gründet ihr großer Erfolg, der zugleich beweist, dass anspruchsvolle neue Musik ohne weiteres ein breites Publikum erreichen kann.

Unsuk Chin © Klaus Rudolph

Unsuk Chin lebt seit drei Jahrzehnten in Berlin, versteht sich als Teil einer internationalen Musikkultur und möchte auf keinen Fall, nur weil sie Koreanerin ist, in die asiatische Schublade gesteckt werden. Auch wenn sie gelegentlich koreanische Instrumente verwendet ist ihr kompositorisches Denken international. Im Stück „Gougalon“ zum Beispiel zitiert sie mit dem Titel ein altdeutsches Wort, das in etwa „gaukeln“ bedeutet. Es bezieht sich auf Jahrmarkts- und Straßenkunst, die Unsuk Chin kürzlich in China erlebte und auch aus ihrer Jugend in Korea kennt. Ihr Stück spielt somit nicht auf eine bestimmte Kultur an, sondern versinnbildlicht eine imaginäre Volksmusik. Unsuk Chin stilisiert volksmusikalische Eigenheiten und integriert sie in ihre musikalische Sprache, die eine komplexe zeitgenössische ist.

Ohne dass man es direkt hört, spielt das Klavier in Chins musikalischem Leben eine große Rolle. Denn eigentlich wäre die Komponistin gerne Pianistin geworden. Ihren unerfüllten Traum lebt sie in Klavierwerken aus. Neben einer Reihe von Solo-Kompositionen gibt es zwei orchestral konzipierte Werke, in denen das Tasteninstrument erscheint, unter ihnen das „Double Concerto“.
Allerdings treten die Solisten an Klavier und Schlagzeug nicht als solche in den Vordergrund. Ja es ist sogar das Ziel der Komponistin, die Soloinstrumente mit dem Ensembleklang zu verschmelzen und damit das Prinzip des Konzerts, die Gegenüberstellung von Solisten und Ensemble, aufzuheben. Unsuk Chin spricht von einer „Fusion“, die ein homogenes Ganzes ergeben soll, einen geschlossenen Klangkörper.

Auch in anderen Werke möchte die Komponistin solche Klangkörper erzeugen. Die Farbigkeit der Musik spielt da eine zentrale Rolle. Das Interesse Unsuk Chins an Farben gründet auf ihrem persönlichem Erleben. Seit frühester Jugend verbindet sie mit jedem Ton eine konkrete Farbvorstellung, zum Beispiel gelb mit schwarzen Streifen. Das sind elementare Erfahrungswelten, die Chins Komponieren prägen. Die unmittelbare, spontane Wirkung ihrer Musik hat sicherlich mit dieser Fokussierung auf die Klangfarbe zu tun, den wohl sinnlichsten der musikalischen Parameter.

Zur Farbigkeit von Chins Musik gehört auch Geräuschhaftes. Im „Double Concerto“ sind einige Saiten des Klaviers präpariert, sodass perkussiv wirkende Klänge entstehen. Das fließt in den Gesamtklang ein, den Unsuk Chin mit ihrem sehr feinen Sinn für die Klang-Valeurs der Instrumente gestaltet. Zu Chins Klangdenken gehört auch das besondere Interesse an Frauenstimmen, das in „Cantatrix Sopranica“ aufscheint. Dem Werk liegen Nonsense-Texte zugrunde, sodass die Textvertonung weitgehend frei von semantischen Assoziationen bleibt. Auch hier geht es Unsuk Chin um den Klang. Die Komponistin zielt auf eine Symbiose zwischen Text als Klang und den Sound der Stimmen und Instrumente.

Dabei weicht Chins Formulierung der Klangfarben vom Gewohnten ab. Ihre Musik ist von einer besonderen Aura umhüllt, vom Hauch des Besonderen, des so noch nie Gehörten. Beschreibungen dieser Klangfarblichkeit erweisen sich als schwierig, weshalb die Musik mangels angemessener Begriffe unter anderem „unergründlich“, „rätselhaft“ oder „neuimpressionistisch“ genannt wurde.

Unsuk Chin, Peter Rundel © Klaus Rudolph

Das hängt auch damit zusammen, dass sich hinter der klanglichen Fassade sorgfältig konstruierte Strukturen verbergen. Klangfarbe fungiert in Unsuk Chins Musik nicht als Stützglied der musikalischen Architektur. Sie ist eine Oberflächenkontur im Vordergrund des Geschehens, die die Musik natürlich und organisch wirken lässt. Aber eigentlich verdankt sich diese Wirkung der strengen Konstruktion der Musik. Chin verlässt sich weder auf Intuitionen noch auf ein Bauchgefühl oder pure Spontaneität. Sie versucht, alle Elemente eines Stücks in ein strukturelles Konzept einzubinden. So kommt es, dass die Musik, selbst wenn sie dicht und komplex wird, klar und luzid erscheint und einen eigenwilligen Glanz ausstrahlt.

Autor: Hanno Ehrler
Der Artikel wurde zuerst in unserer Broschüre veröffentlicht.