24. Oktober 2025

Die Entstehung eines Namens – und einer Philosophie

„Le Chaos, ou l’origine du monde” – „Chaos, oder der Ursprung der Welt

Es war fast unbewusst, als wir uns für den Namen Kölner Chaos Orchester entschieden haben. Auf den ersten Blick ruft das Wort Chaos das hervor, was wir instinktiv damit verbinden: Unordnung. Unordnung als Rebellion gegen die etablierte Ordnung, als Dekonstruktion, als bewusste Vermischung von Elementen, um etwas völlig Neues aufzubauen.
Später jedoch, als ich über den Namen nachdachte, erkannte ich seine tiefere Bedeutung – eine Bedeutung, die in der Mythologie und Kosmogonie verwurzelt ist.

Chaos ist weit mehr als bloße Unordnung. In der griechischen Mythologie ist es die ursprüngliche Leere, der Urgott, der vor allem anderen existierte. Eine verworrene Masse, in die noch nicht einmal das Licht eindringen konnte, in der die ersten Schritte der Schöpfung noch ungeformt waren. Aus diesem Chaos entstanden die Grundlagen der Existenz: Éros (Liebe), Gaïa (Erde), Ouranos (Himmel), Érèbe (Dunkelheit), Nyx (Nacht), Héméra (Tag) und Éther (das Licht des Tages).

Am vergangenen Sonntag begann unser Konzert „Monophonies” im Studio Musikfabrik mit seinem eigenen Urknall. Die Griechen ahnten es, Wissenschaftler gaben ihm später einen Namen. Und wir taten es ihnen gleich, in den ersten drei Minuten einer einstündigen Reise. Die Chaostheorie in der Physik beschreibt Systeme, die so empfindlich sind, dass das Flattern eines Schmetterlings in Brasilien einen Sturm in Köln auslösen kann. Im KCO lebt dieses Prinzip: Eine einzige musikalische Geste eines Musikers breitet sich im Orchester aus und wird Sekunden später von einem Brüllen, einem Flüstern oder einem Dröhnen aus einer anderen Ecke des Raumes beantwortet.

Wie der Philosoph Raphaël Liogier in Khaos: La promesse trahie de la modernité (2023) schreibt:

„In der Antike bezeichnete das griechische Wort khaos – aus dem das lateinische chaos hervorging – die Leere: eine positive Leere, voller Potenzial, etwas zu Großes, um durch Darstellung eingegrenzt zu werden.“

Das ist das Chaos, das wir verkörpern. Keine Leere, sondern eine Fülle – ein wimmelnder, grenzenloser Raum der Möglichkeiten. Und diese Bedeutung muss uns leiten.

*(Illustration: „Le Chaos, ou l’origine du monde“ von Bernard Picart, dit le Romain (1673–1733), zwischen 1730 und 1733 – denn jeder Anfang ist eine Art schöner Unordnung.)*

 

 

 

 

Ein Dankeschön an die Architekten der Leere

Am vergangenen Wochenende hat das KCO bewiesen, dass Chaos, wenn es bewusst gelenkt wird, zur Schöpfung wird. Das Konzert war ein Beweis dafür, was passiert, wenn professionelle Strenge auf radikale Offenheit trifft – wenn ein Orchester mit unterschiedlichen Hintergründen, vereint durch Neugier, es wagt, zu brüllen, zu schreien, zu singen, zu flüstern, zu knurren, zu trommeln und zu dröhnen, um etwas völlig Neues ins Leben zu rufen.

All dies wäre ohne unser Büro- und Stageteam nicht möglich gewesen, dessen Engagement das Potenzial in die Realität umsetzte, von den Bemühungen und der Sorgfalt, die in Video, Ton und Licht sowie in die Dokumentation des Abends und die makellose Organisation gesteckt wurden, die das Chaos funktional machten. Nicht zuletzt Axel Porath, der der ideale Partner in diesem Abenteuer war.
Die Musiker*innen des KCO haben sich der Herausforderung gestellt, weil sie gesehen haben, wie ernst wir dieses Projekt genommen haben. Als sie die fünf professionellen Kameras, die sorgfältige Beleuchtung und die mit Sorgfalt aufgebaute Infrastruktur sahen, war ihnen klar: Das ist wichtig. Und so spielten sie, als stünde unendlich viel auf dem Spiel – denn in gewisser Weise war das auch so.

Warum das wichtig ist: Die radikale Kraft der Amateurkunst

Zeitgenössische Musik wird oft als elitär und unzugänglich angesehen – als eine Welt von Spezialisten, die eine Sprache sprechen, die nur sie verstehen. Aber das KCO existiert, um diese Vorstellung in Frage zu stellen. Indem wir Amateurmusiker*innen als wichtige Mitwirkende behandeln, machen wir nicht nur Musik, sondern geben auch ein Statement darüber ab, was Musik sein kann. Ohne Amateure gibt es keine Zukunft für mutige, experimentelle Kunst. Die ausgefeilten Drei-Minuten-Formate der Branche werden die nächste Generation von Klangforschern nicht fördern. Wenn wir Musiker*innen wollen, die mutig genug sind, sich über den Mainstream hinaus zu wagen, müssen wir das Seltsame, das Unbekannte, das herrlich Unvollkommene demokratisieren. Das KCO ist ein Schritt in diese Richtung – ein Raum, in dem Experimente gefeiert werden, in dem „Fehler” zu Entdeckungen werden und in dem die Grenzen zwischen „Amateur” und „Profi” verschwimmen. Dies ist nur der Anfang. Das KCO wächst noch, entwickelt sich noch weiter. Es gibt jüngere Musiker*innen, die es zu gewinnen gilt, neue Stimmen, die es zu verstärken gilt, und unendliche Möglichkeiten, wie dieses Orchester wachsen und gedeihen kann. Die Energie dieses Wochenendes ist nur die erste Welle – was als Nächstes kommt, liegt an uns allen.

Die Arbeit geht weiter

Das Schöne am Chaos ist, dass es kein Ende nimmt. Es bleibt in Bewegung, verändert sich ständig. Die Ideen, die an diesem Wochenende entstanden sind – neue Musik, neue Strukturen, neue Formen der Zusammenarbeit – werden nicht verschwinden. Sie werden in Proben, in Gesprächen, in den Räumen, die wir füreinander öffnen, Gestalt annehmen.
Denn letztendlich ist Chaos nichts, was man kontrollieren kann. Es ist etwas, dem man zuhören, dem man vertrauen und das man sich entfalten lassen muss. An das KCO, an das Team, an alle, die an die Kraft des Unbändigen und Lebendigen glauben – vielen Dank. Das Beste entsteht immer noch aus der Leere.