23. März 2021

Musikfabrik im WDR 75

Link zur Sendung 

Richard Rijnvos – Riflesso sull’incontro (2019/20) – Kompositionsauftrag von November Music

Enno Poppe – Prozession (2015/20) – Kompositionsauftrag von Ensemble Musikfabrik, Bernd und Ute Bohmeier, Festival AFEKT und Kunststiftung NRW

Ensemble Musikfabrik
Enno Poppe, Dirigent

Unser 75. Konzert der Reihe Musikfabrik am 15. November 2020 musste kurzfristig ohne Publikum stattfinden. Um so mehr freuen wir uns, dass es nun im WDR3  gesendet und ich Anschluss für 30 Tage zum Nachhören zur Verfügung stehen wird – die Werktexte von Raoul Mörchen aus unserem digitalen Programmheft finden Sie hier:

Zu den Werken

Richard Rijnvos – Riflesso sull’ incontro

Wem die Besetzung irgendwie bekannt vorkommt und sich an ein beinahe hundert Jahre altes Werk von Edgard Varèse erinnert, der hat a.) ein verdammt gutes Gedächtnis und ist b.) auf genau der richtigen Spur. Weniger enzyklopädisch geschulten Hörern hilft ein Blick in die Partitur, wo der Komponist ohne Umschweife die Karten auf den Tisch legt: Ja, die Instrumentierung entspricht ziemlich genau der von „Octandre“. Und es gibt noch andere Hinweise, die von hier zum Werk des Kollegen führen. Die achtteilige Anlage als Referenz auf die Acht im Titel des Originals etwa („Octandre“ meint eine achtblättrige Blüte) oder die Ableitung der acht tonalen Zentren der acht Abschnitte aus dem Namen Edgard Varèse: E-D-G-A-D-A-E-(E)s.

Richard Rijnvos spricht von einem Schwesterwerk, einem „Companion Piece“, und erklärt seine Idee und Entstehung mit einem Zitat des italienischen Autors Italo Calvino: „Ich gestehe, ich habe einen so intensiven Traum gehabt von einer Begegnung mit dir, in allen Einzelheiten, dass es nun wie ein Teil meiner eigenen Erfahrung ist, als hätte ich es wirklich erlebt. All das geschah ganz plötzlich, einfach und natürlich.“

Rijnvos also ist im Traum Varèses „Octandre“ begegnet. Was wir hören, ist der Abglanz dieser Begegnung, den „Riflesso sull‘incontro“. Schon mehrmals sind Rijnvos im Traum Werke von Kollegen begegnet: 2007 Stockhausens „Refrain“ und Sibelius‘ „Schwan von Tuonela“,  2016 die „Swinging Music“ von Kazimierz Serocki, im Jahr darauf die Suite op.29 von Schönberg. Ein Abglanz allerdings ist etwas anderes als ein Verweis, weniger literarisch, weniger gezielt und vor allem ist die Richtung eines andere. Der Verweis führt weg zu etwas anderem, im Abglanz aber schlägt sich etwas anderes nieder, wird hierher reflektiert, jedoch nicht wie in einem Spiegel, als konkretes Abbild, sondern unscharf und verwandelt.

So sind es nicht Zitate, die uns an die geträumte Begegnung mit „Octandre“ erinnern, sondern vage gewordene Eindrücke – zuallererst der Eindruck eines Widerstreits von Bewegung und Stillstand, von atemlosen Figuren, die blitzschnell auf und abschwingen, und einem geradezu manisch anmutenden Beharren auf der Horizontalen, sei es in schnellen Repetitionen oder in stur ausgehaltenen Liegetönen. Auch die für Varèse typische Aussparung einer dynamischen Mitte hat abgefärbt, abgeglänzt: bei Rijnvos überwiegen rasche Wechsel zwischen sehr leise und sehr laut, zart und aggressiv. Schließlich sucht man sangliche Melodie und körperlichen Rhythmus vergebens – was nicht da ist, kann auch keinen Eindruck hinterlassen. Doch nicht alles ist Abglanz. Die Idee, die acht Absätze jeweils mit einem kleinen Solo eines der acht Instrumente zu eröffnen, ist in ihrem Witz und ihrer formalen Stringenz ganz und gar nicht „comme Varèse“ und auch die Pointe mit den sich additiv von 2/8 auf 9/8 verlängernden Pausen zwischen der Schlussfigur der Flöte ist so frech und lapidar, wie es der latent cholerische Kollege Varèse selbst in einer geträumten Begegnung nie und nimmer gewesen sein kann.

Enno Poppe – Prozession

Musik aus dem Lockdown. Vor fünf Jahren hatte Enno Poppe die Arbeit begonnen, doch die „Prozession“ bei Minute 8 wieder abgebrochen. Irgendwann sollte es weiter gehen. Das Stück, dachte Poppe, hätte dann vielleicht eine Viertelstunde gedauert. Es ist dreimal so lang geworden. Als er die Partitur Mitte März, als draußen nichts mehr lief, wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte, sei es plötzlich wie von selbst gegangen, so Poppe: es habe sich immer weiter ausgebreitet, immer weiter entfaltet. Den Samen für diese Entwicklung hatte er zwar selbst gepflanzt und schon anno 2015 eine Wachstumsstruktur entworfen mit einer konkreten Proportionslogik – dass sie ihn aber so weit tragen würde, hat ihn am Ende dennoch überrascht.

Enno Poppe liebt Pläne, aber Musik liebt er noch mehr, und wenn die Musik seine Pläne beim Komponieren überwuchert oder einfach hinter sich lässt, „dann ist das auch gut“. Konkret heißt das hier: Im ersten Entwurf schon sollte „Prozession“ aus neun Abschnitten mit jeweils neun Unterabschnitten bestehen. Dass tatsächliche Erreichen der rechnerisch letzten Nummer 81 ist gleichwohl, so sieht es Poppe, der Beharrungskraft des Materials geschuldet, nicht der Sturheit des Komponisten.

Die neun Abschnitte exponieren verschiedene instrumentale Duos und längere Soli vor dem Hintergrund einer sich blockhaft wandelnden Schlagzeugspur. Im ersten Abschnitt korrespondieren zum Beispiel Flöte und Geige, wobei noch eine Bratsche zur Verstärkung des Hintergrunds dazukommt. Aus dem Duo entwickelt sich eine gemeinsame melodische Linie, die dann am Ende eines jeden Abschnitts in einen Akkord mündet, um dann ohne Unterbrechung zum nächsten Abschnitt mit dem nächsten Duo zu führen, der nächsten Linie, dem nächsten Akkord. Die einzelnen Segmente werden dabei kontinuierlich länger, alles gerät mehr und mehr in Fluss. Und es ist genau dieser Fluss, um den es geht, um eine Energie, die alles mit sich reißt und auflöst und zur reinen Bewegung werden lässt, auch die formale Segmentierung, die sich im Klanggeschehen auflöst.

Die Bewegung hat selbst keine Logik, sondern entspringt einem körperlichen Gefühl, ist physisch, nicht physikalisch: „Je mehr ich mich von der Struktur löse, desto mehr schreibe ich mich frei.“ Freiheit gewährt dabei auch die Idee der kontinuierlichen Dehnung: durch die fortwährende Verlängerung der einzelnen Abschnitte verlieren sie ihren gestalterischen Eigenwert, ermöglichen nicht nur wachsenden Spielraum, sondern erzwingt sogar dessen Nutzung.

Das also ist der Prozess. Wo aber ist die Prozession?

Poppes Ausschweigen über die Bedeutung seiner Titel ist legendär. „Prozession“ allerdings legt eine vergleichsweise konkrete Spur. Denn das Prozessuale ist nur das eine – es geht nach einem bestimmten Plan immer weiter. Prozessionen aber führen nicht nur weiter, sondern in eine ganz konkrete Richtung und zu einem Ziel. Dieses Ziel ist geographisch genau verortet, doch geistig ist es offen. Als Wanderung führt die Prozession zu einem Ort, als innere Bewegung zieht sie ins Unendliche. Und sie hat auch Poppe gewissermaßen ins Unendliche gezogen, zu einem ihm bis dahin unbekannten Punkt seines kompositorischen Schaffens: „Hier ist irgendetwas passiert, was ich so noch nie geschrieben haben.“

Man darf darüber spekulieren, was das bedeutet und wofür diese große Bewegung der „Prozession“ steht. Als Hörer erfahren wir sie als eine Bewegung in Wellen, die immer höher werden und mächtiger. Äußerlich ist ein energetischer Höhepunkt der Beschleunigung und Dynamik bereits im sechsten Teil erreicht, doch statt danach abzuebben, verlagert sich die prozesshafte Intensivierung gewissermaßen ins Innere. Konturen verschwinden, auch unser Sinn für Maßstäbe tut‘s. Rhythmisch kommen noch die letzten Reste eines Pulses abhanden, harmonisch finden wir in den mikrotonal extrem gestauchten Akkorden keinen Halt, nichts, auf das wir sie beziehen könnten.

Diese totale Orientierungslosigkeit allerdings ist keine Katastrophe, sondern scheint wie ein Versprechen von grenzenloser Freiheit und Glück: „Irgendwann ist alles richtig. Es gibt nichts Falsches mehr.“

Raoul Mörchen

Besetzung

Susanne Peters, Flöte
Peter Veale, Oboe
Carl Rosman, Klarinette
Joshua Hyde, Saxophon
James Aylward Fagott

Christine Chapman, Horn
Marco Blaauw, Trompete
Nathan Plante, Trompete
Bruce Collings, Posaune

Ulrich Löffler, Keyboard
Benjamin Kobler, Keyboard
Yaron Deutsch, E-Gitarre
Dirk Rothbrust, Schlagzeug

Rie Watanabe, Schlagzeug
Thomas Meixner, Schlagzeug
Ramón Gardella, Schlagzeug

Hannah Weirich, Violine
Sara Cubarsi, Violine
Axel Porath, Viola
Dirk Wietheger, Violoncello
Florentin Ginot, Kontrabass

Enno Poppe, Dirigent