29. Oktober 2024

Mikrotonale Popsongs

Am 23. November präsentieren wir im WDR Funkhaus Lisa Streichs neues Werk VOGUE. Dieses Gespräch mit Lisa Streich und Hannah Weirich haben wir für unsere Halbjahresbroschüre im Sommer dieses Jahres aufgezeichnet.

HANNAH WEIRICH: LIEBE LISA, WIE SCHÖN, DASS DU EIN STÜCK FÜR UNS SCHREIBST. KANNST DU MEHR DARÜBER ERZÄHLEN?
Lisa Streich: Es sind im Grunde genommen „mikrotonale Popsongs“. So nenne ich sie. Es sind einfache Lieder, die ich schreibe, inklusive der Texte. Diese werden mikrotonal komponiert, also instrumentiert und harmonisiert.

HAT DICH DIE MUSIKFABRIK DAZU INSPIRIERT, POPSONGS ZU SCHREIBEN? WIE BIST DU AUF DIESES THEMA GEKOMMEN? DAS KENNE ICH BISHER NOCH NICHT BEI DIR.
Ich dachte mir, mit der Musikfabrik kann ich alles machen [lacht], und ich habe das Gefühl, ich kenne sie alle ein wenig, so dass ich ihre einzelnen Persönlichkeiten hoffentlich gut erfassen kann.

WORUM GEHT ES IN DEINEN SONGS?
Alles und nichts – typische Popthemen. Die Texte erscheinen mir persönlich tiefgründig, aber sie sind sehr offen und aus dem Leben gegriffen, auch wenn es nicht mein eigenes ist.
A BOY WHO SINGS
A BOY WHO DREAMS
A BOY WHO DIES
A BOY WHO SELLS
A BOY WHO SPEAKS
A BOY WHO SEES
A TAILLURED MAN
ANOTHER CRA Z Y.

AN EMPTY STOMACH
A HEAV Y HEART
THE PERFECT PAIR
ON THAT SPECIAL DAY
HE KEPT IN HIS HAT
A UNIVERS OF DEMOLITION.

HE’S ASPHALTED BY DESTINY
HE EXHALES LOVE
AND INHALES TAR
WHO IS THIS BOY
WITH SAD CONSONANCES?

HE NOTICED HIS SHADOW
IS GREEN LIKE DISPAIR
GREEN LIKE FEAR
ABYSS AND OBLIVION
GREEN LIKE THE VIOL ATION OF RED
GREEN LIKE THE SL AP AND THE L AST OUTRAGE
GREEN LIKE THE BODY
HANGING ON HIS GALLOWS.

HIS HEART BECAME RED
RED LIKE PRIDE
RED LIKE BLOOD
RED LIKE PAIN AND SHAME
RED LIKE A LOBSTER
BL ACK LIKE A HUMMER
WE LOVE GOOD CONSCIOUS.

MY T WELVE YEAR OLD BOY
WAS NINE TIMES FUCKED
AND RED WAS SUCKING
THEIR APOCALYPSE FINGERS.

A BOY WHO SINGS
A BOY WHO DREAMS
A BOY WHO DIES
A BOY WHO SELLS
A BOY WHO SPEAKS
A BOY WHO SEES
A TAILLURED MAN
ANOTHER CRA Z Y.

UND WIE STELLE ICH MIR DAS DANN VOR? STEHT DA JEMAND AUF, KOMMT IN DIE MITTE UND SINGT?
Nein, nicht ganz. Es wird verschiedene Szenen auf der Bühne geben, und immer einen Solisten oder eine Solistin, der oder die zusammen mit ihrem Instrument singt. Niemand ist alleiniger Leadsänger, sondern jeder oder jede ist mit seinem Instrument verbunden. Und dann gibt es die „Band“, die dahinter steht. Es gibt nicht nur ein Lied, sondern manchmal auch zwei oder drei gleichzeitig. Es sind verschiedene Schichten von Songs.

DAS KLINGT SPANNEND! DU VERWENDEST OFT BEREITS EXISTIERENDE HARMONISCHE VERLÄUFE. WIRD DAS AUCH HIER DER FALL SEIN?
Genau. Ich arbeite mit meinem Akkord-Katalog.

DAS MUSST DU MIR KURZ ERKLÄREN.
Das ist ein Katalog, der jetzt auch als Buch im Sommer erscheint. Er besteht aus Momenten aus YouTube; Aufnahmen von Amateurchören, die eine Spur falsch singen. Dadurch höre ich den Dur- oder Moll-Akkord oder die Terz, die Sexte quasi wie zum ersten Mal. Der Ausdruck verschärft sich dadurch, dass er nicht so erklingt, wie ich es gewohnt bin. Gleichzeitig erkenne ich aber die kleine Terz und den Ausdruck der kleinen Terz.

DAS HEISST, ES GIBT IM NEUEN STÜCK KEINE LÄNGEREN HARMONISCHEN VERLÄUFE, DIE DU ÜBERNIMMST? BEI „SAI BALLARE?“ GAB ES JA ZUM BEISPIEL EINEN AUSSCHNITT AUS EINEM HAYDN-TRIO IN EXTREMER VERLANGSAMUNG. JETZT SIND DANN EHER EINZELNE HARMONIEN, …
… die ich dann neu zusammensetze, genau. Und diese Harmonien habe ich in verschiedene Ausdrücke katalogisiert, zum Beispiel GLORIA, LES BAINS, LYS, REMEMORY, GEBET, APFELSINE, GOD WAS NOT A FEMINIST und viele mehr.

WOHER KOMMEN DENN DIESE THEMENFELDER?
Dieser Katalog stammt aus verschiedenen Stücken, die ich geschrieben habe, wo ich genau diese Ausdrücke gesucht habe. Und jetzt kann ich darauf zurückgreifen. Aber ich sammle immer weiter.

HAST DU DEN KLANG DER AKKORDE IM OHR, ODER HÖRST DU DIR SIE IMMER WIEDER AN?
Ich habe die Akkorde mittlerweile fast alle in meinem Kopf. Sie sind meine Schätze, meine Pralinenkiste oder ein Schrank voll mit Düften. [lacht]

WENN DU KOMPONIERST, IST ES HILFREICH FÜR DICH ZU WISSEN, WELCHE MUSIKER*INNEN SPIELEN? SCHREIBST DU FÜR BESTIMMTE PERSONEN?
Ja, das beeinflusst mich sehr. Für dieses Projekt besonders. Wer welchen Song bekommt, ist entscheidend. Zum Beispiel könnte der Song für Florentin schwer von jemandem anderen aus dem Ensemble gesungen werden.

GIBT ES AUSSERMUSIKALISCHE THEMEN, DIE IN DEINE SONGS EINFLIESSEN?
Ja, die Ausdrücke sind eng mit meinem Leben verbunden. Sie spiegeln beispielsweise Erfahrungen, die Rezeption von Texten, Kunstwerken und Einflüsse von Freunden wider.

GIBT ES BESTIMMTE THEMEN, DIE DU ERWÄHNEN MÖCHTEST?
Nein, ich würde es eher abstrakt lassen. Also, Apfelsine steht zum Beispiel für fordernde, strahlende Klänge, die aber so ein wenig sauer sind. Ich habe auch zu jedem Ausdruck ein Gedicht geschrieben. Hier zum Beispiel für ZUCKER:
EMPTY EVERYDAY
HEAVENLY HAPPINESS
LIEBLING.
(HABIBI.)

DU VERWENDEST OFT THEATRALISCHE ODER VISUELLE EFFEKTE IN DEINER MUSIK. GIBT ES SOLCHE ELEMENTE AUCH IM NEUEN STÜCK?
Es wird bestimmt choreografische Elemente geben. Ich möchte Duos kreieren, die zusammen Choreografien befolgen oder sich in ihrem Spiel beeinflussen. Aber das ist noch nicht festgelegt.
Die Crux wird sein, dass ich den elektronischen Charakter von Popsongs nachspüren will und doch meist traditionelle Instrumente benutze. Es gibt dann wahrscheinlich maximal ein oder zwei Synthesizer, aber der Rest werden akustische Instrumente sein. Da bin ich total gespannt, wie sich das mischt und ob sich das mischt. Das ist vielleicht die größte Herausforderung oder auch das schönste Moment, wenn das dann nicht gelingt. Oder wenn es gerade so gelingt, so dass man diesen Hybrid lieben lernt.

BEI STREICHERN BENUTZT DU GERNE SEHR BIZARRE BOGENGESCHWINDIGKEITEN, EXTREM LANGSAM ODER EXTREM SCHNELL, WAS EINE GANZ EIGENE ART VON SCHÖNHEIT HERVORBRINGT – WEIL ZUM BEISPIEL DIESES STREICHEN MIT KAUM WAHRNEHMBARER BEWEGUNG EINEN BRÜCHIGEN KLANG ERZEUGT, WAS SO ÜBERHAUPT NICHT DEN KLASSISCHEN SCHÖNHEITSIDEALEN ENTSPRICHT. ABER WENN MAN SICH DARAUF EINLÄSST, FINDE ICH ES UNGLAUBLICH SCHÖN, POETISCH UND VIEL FARBENREICHER ALS EINEN NORMALEN, „SCHÖNEN“ KLANG. WIE BIST DU DAHIN GEKOMMEN? WAS HAT DICH DA ZU INSPIRIERT?
Ich glaube, es fing damit an, dass ich normale Dur- und Moll-Klänge in meiner Musik haben wollte. [lacht] Mit einem wahnsinnig langsamen Bogen gibt es dann andere, quasi staubigere Akkorde. Und dann kam aber auch das choreografische Moment hinzu. Ich sehe immer Flügelkreaturen bei Streichern. Im Notenständer sehe ich die Füße vom Vogel, und der Arm des Streichers wird der Flügel. Es ist ein ganzes Objekt, das ich immer schon bei Streichern gesehen habe. Darüberhinaus benutze ich die Bogengeschwindigkeit auch, um eine gewisse Imperfektion hineinzubringen. Um einzubauen, dass man im Prinzip nie richtig Kontrolle über das Stück hat und es im Moment formbar ist.

IN DEN LETZTEN JAHREN HAST DU FÜR ALLE BESETZUNGEN GESCHRIEBEN, VON SOLO ÜBER KAMMERMUSIK BIS HIN ZUM GROSSEN SINFONIEORCHESTER. WAS REIZT DICH GANZ
BESONDERS AN EINER ENSEMBLEBESETZUNG?
Großes Ensemble ist faszinierend, weil es solistisch sein und trotzdem den Klang eines Orchesters haben kann. Man hat also eigentlich die ganze Bandbreite, und das ist besonders herausfordernd. Beim Orchester kann/muss man einfacher schreiben, gleichzeitig bekommt man viel geschenkt. Bei Kammermusik kann/muss man differenzierter arbeiten. Ein Ensemble erlaubt es, zwischen beiden Welten zu wechseln.

WOFÜR SCHREIBST DU AM LIEBSTEN?
Orchester. Groß. Je mehr, desto besser. Viel hilft viel.

[LACHT] WARUM?
Das liegt an den Akkorden. Sie sind bis zu 32-stimmig. Und um den Körper dieser Akkorde abzubilden, sind mehr Spieler*innen besser. Darin stechen manche Töne heraus, manche sind forte, zum Beispiel ein vielfaches Piano. Und das ist unglaublich schwer zu balancieren, wenn man nur 16 Spieler*innen hat. Jeder interpretiert ein Mezzopiano anders. Und da entsteht es bei kleineren Formationen unglaublich leicht, dass der Akkord in etwas anderes umschwenkt. Und bei großen Formationen ist einfach so eine gewisse Sicherheit gegeben. Dann gibt man die prominenten Töne an zehn Musiker*innen, und alle spielen in der gleichen Dynamik, aber die Töne werden trotzdem lauter, weil sie mehrfach besetzt sind.

DAS HEISST, DU ANALYSIERST NICHT NUR DIE HARMONIK DER AKKORDE, SONDERN AUCH DIE BALANCE DER AKKORDTÖNE?
Ja, ich verstärke auch Teiltöne im Spektrum, wo meiner Meinung nach der größte Ausdruck vorhanden ist.

WIE BIST DU DENN ÜBERHAUPT AUF DIE AMATEURCHÖRE GEKOMMEN?
Ich habe immer viel Musik gehört. Und als ich 2016/17 in Rom gewohnt habe, kam ich an einen Punkt, an dem ich dabei auf einmal nichts mehr empfunden habe. Ich wollte wirklich neue Musik finden, die wieder Freude bringt oder die einen fühlen lässt, dass man am Leben ist. Und dann bin ich auf diese Amateurchöre bei YouTube gestoßen. Und das war wirklich so, als ob ich wieder drei Jahre alt bin und zum ersten Mal Mozart höre und diese einfachen Harmonien zum ersten Mal erleben darf. Und seitdem suche ich diese Momente und sammle sie.

WELCHE ART VON MUSIK HÖRST DU GERNE?
Alles. Ich liebe Klassik, alte Musik, aber auch Popmusik und HipHop. Meine Tochter hört jetzt K-Pop. Das ist ganz neu für mich. Also es ist ähnlich, aber es ist ganz anders im Ausdruck. Vor allem die Texte. Es ist einfach spannend zu sehen, was für Gefühle es jetzt in unserer Welt gibt und wie unterschiedlich die Parallelen nebeneinander herlaufen.

HAT DAS, WAS DU HÖRST, EINFLUSS AUF DAS, WAS DU SCHREIBST?
Es gibt so Momente, wo ich total verliebt in Musikstücke bin, und dann ist es schwer, nicht zumindest darauf einzugehen. Weil ich dann denke, es gibt nichts Besseres als dieses eine Stück. Und ich muss diese Liebe, das Stück, einbauen, auch wenn es am Ende vielleicht überhaupt nicht erkennbar ist.

WANN HAST DU ANGEFANGEN ZU KOMPONIEREN?
Mit 14 habe ich zum ersten Mal etwas geschrieben, es aber schnell verworfen, weil ich dachte, Komponistin zu werden, sei nur etwas für Männer. Das kann man als Frau gar nicht, Komponistin werden.

WAS HAT DICH DAMALS ZUM KOMPONIEREN GEBRACHT?
Die Liebe zur Musik. Ich hatte aber nie die Partitur einer Frau gesehen. Das existierte in meiner Welt nicht.

WIE GING ES DANN WEITER?
Dann bin ich mit 18/19 nach Berlin gezogen, und da habe ich ein Stück von Rebecca Saunders gehört. Und dann wurde mir klar, man kann Komponistin werden als Frau. Und das fiel damit zusammen, dass ich eigentlich wahnsinnig gerne Musik machen wollte, mein ganzes Leben lang, aber definitiv nicht auf der Bühne stehen wollte.

UND DANN WAR KLAR, DASS DU KOMPONISTIN WERDEN WILLST?
Ja! Ich empfinde es als großartig, dass man Musik ohne Auftritt machen kann, ohne auf der Bühne zu stehen. [beide lachen]

WAS FÜR EIN GLÜCK FÜR UNS! VIELEN DANK FÜR DAS SCHÖNE
GESPRÄCH – WIR FREUEN UNS AUF DEIN NEUES STÜCK!

Juni 2024

©Ricordi_Harald Hoffmann