24. Juli 2020

Lockdown Tape #37

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Sehyung KimSIJO_170213 (2013) für Trompete

Marco Blaauw, Trompete

Janet Sinica, Video
Daniel Seitz, Sounddesign

Marco Blaauw erzählt für den Blog, wie er in Zeiten des Corona-Virus-Lockdowns den Komponist und das Stück entdeckt hat:

Ich kann mich nicht erinnern, wie die einseitige Partitur von SIJO_170213 in mein Archiv gelangt ist, aber ich habe sie oft angeschaut und sogar ausgedruckt, um sie an meine Wand zu hängen, weil sie mir so schön erschien. Ich habe nie versucht, sie zu spielen.
Der Titel ließ dieses Stück wie eine Seite aus einem Katalog aussehen. Die Partitur besteht aus nur drei Zeilen mit begrenztem Tonhöhenmaterial und sah auf den ersten Blick eher wie eine Studie oder Skizze aus.

Der Lockdown der letzten Monate erlaubte viel Zeit und Raum, um viele alte und neue Ideen auszuprobieren, die normalerweise im hektischen Alltag verloren gehen.
Ich nutzte diese Gelegenheit die Partitur auf meinen Notenständer zu legen und machte den ersten Versuch, diese abstrakt wirkenden Gesten auf der Trompete zu spielen.
Beim Üben blieb ich bald mit Fragen stecken – es war an der Zeit, den Komponisten etwas besser kennen zu lernen:

Sehyung (Sergey) Kim wurde 1987 in Kasachstan als Sohn koreanischer Eltern geboren. Nach dem Abschluss am Moskauer Konservatorium absolvierte er von 2013 bis 2019 sein Masterstudium in Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz bei Beat Furrer, Pierluigi Billone und Bernhard Lang. Von 2011 bis 2012 erhielt er zudem privaten Kompositionsunterricht bei Dmitri Kourliandski. Für seine Werke, die von Solokompositionen bis zum Musiktheater reichen, hat Sehyung zahlreiche Preise bei internationalen Wettbewerben gewonnen. Seit 2019 werden seine Werke, sowohl Partituren als auch CDs, vom St. Petersburger Zentrum für zeitgenössische Musik herausgegeben.
https://en.remusik.org/resources/composers/sehyungkim/

Im CD-Booklet von Sehyung Kims letzter CD „Three Sijo“ schreibt Beat Furrer:
„ … In dieser Musik artikuliert sich eine Persönlichkeit, ein Komponist mit fernöstlichen Wurzeln in einer Sprache ohne jegliche eklektizistische Klangmalerei. Ständig forschend, ständig auf der Suche nach neuen Formen, hat er, mit seiner Konzentration und Fokussierung auf das Wesentliche, bereits seine ganz eigene Klanglichkeit gefunden…”

Sehyung Kim antwortete prompt auf meine erste E-Mail in der ich mich über das Stück erkundigte:
„…Dieses Stück ist Teil des großen Zyklus „Sijo_Buch I“ (der wiederum Teil des Megazyklus Sijo ist) und besteht aus 21 Solowerken. Alle sind durch die Schreibmethode vereint, die ich der Struktur der klassischen koreanischen Poesie entlehnt habe…“

Tatsächlich fühlt sich die Aufführung dieses Stückes an, als würde man ein Gedicht rezitieren.
Es gibt drei Phrasen (23, 26, 29 Schläge lang), zwei Tonhöhen, fünfzehn Takte, sieben Atemzüge und drei verschiedene Parameter, die den Klang färben.
Jede Geste gewinnt zur Mitte hin an Gewicht, indem Mehrklänge hinzugefügt werden. Dies ist die erste Partitur, der ich begegnet bin, die eine doppelte Verzerrung verwendet: Die Stimme tritt bei jedem Crescendo ein, wodurch fast eine Harmonie entsteht, bis die Lippen beginnen, die eigentliche Tonhöhe zu verzerren, was zu einem sehr dichten, komplexen Klang führt. Es gibt kaum technische Kontrolle, stattdessen verlangen diese Klänge ein „Loslassen“ (ich bin nicht gerne so vage, finde aber keine anderen Worte). Sie entstehen im Ausdruck dieses Moments und schaffen ihre eigene Form.
Die Ausführung erfordert vollen Einsatz mit hoher Konzentration und einem leeren Geist, als ob der Komponist uns zu einer heiligen Zeremonie einlädt.
Jede Phrase eröffnet eine Stille, die es uns erlaubt, tiefer zu hören: Wie lange können wir das Echo noch hören? Wie lange können wir sein Gewicht noch spüren? Wie lange können wir den Atem anhalten?
Der Vergleich eines kleinen Steins, der die Oberfläche eines stillen Sees durchbricht, kommt mir in den Sinn. Viele Kreise schießen von dem Punkt aus, an dem der Stein verschwunden ist. Erst wenn die letzten Ringe langsamer werden, kurz bevor das Wasser zur Ruhe kommt, ist es an der Zeit, sich zu entscheiden, ob wir den nächsten Klang beginnen oder einfach in einem stillen, zeitlosen Raum verweilen.
– Marco Blaauw, Juli 2020