15. November 2022

Ich öffne eine Tür und dahinter ist ein Gang und weitere Türen warten…

Benjamin Kobler: Du hast früh angefangen zu komponieren. Wann war das und wo kommst du musikalisch her?

Sarah Nemtsov: Ich habe mit 8 angefangen, kleine Melodien und so etwas aufzuschreiben und würde sagen, dass es ab 13 Jahren ungefähr ernsthafter wurde, dass ich auch den Wunsch hatte, Komponistin zu werden. Ich wollte auch Instrumentalistin sein und habe das eine Weile gemacht, habe erst Blockflöte gespielt und bin mit 14 zur Oboe gewechselt. Ich wollte dann eigentlich auch direkt Oboistin und Komponistin werden, hatte das im Kopf und habe das verfolgt – ohne darüber nachzudenken, ob ich damit großartig Erfolg haben würde. Eigentlich war es so, wie andere in einem noch jüngeren Alter Feuerwehrmann oder Astronaut werden wollen. Ich hatte das Gefühl, ich muss diesen Weg gehen. Und habe dann aber auch immer wieder Menschen getroffen, die mich darin sehr bestärkt und unterstützt haben. Das war einfach ein großes Glück – es waren ganz wichtige Menschen, noch bevor ich überhaupt studiert habe. Die eben nicht gesagt haben: ‚Ach, du spinnst ja.‘ Mein Musiklehrer im Gymnasium etwa, der mir mit 15 den ersten Orchesterauftrag fürs Schulorchester gegeben hat. Oder auch meine Mutter, die als freischaffende Künstlerin selbst ein bisschen utopisch lebte. So war es mir egal, dass das eigentlich so schwierig ist.

BK: Wie war das, als das Schulorchester diesen ersten Orchesterauftrag gespielt hat?

SN: Ja, das war verrückt. Ich habe auch selber mitgespielt. Man denkt sich etwas aus und dann klingt es so ähnlich, aber irgendetwas klingt auch ganz anders. Letztlich ist es bis heute so. Das ist dann das Lernen, der Prozess, die Erfahrung, dass man genauer nachdenken muss. Was die Vision anbetrifft, geht es mal mehr in Richtung scheitern, mal ist es eher geglückt, manchmal sogar mehr als vielleicht erhofft. Es ist sehr beglückend und gleichzeitig ist irgendwie jede Uraufführung auch immer eine Art Schock.

BK: Also einerseits ist es beglückend, wenn etwas gelungen ist, und andererseits, wenn die Sachen nicht funktionieren, ärgerst du dich dann darüber oder motiviert dich das eher?

SN: Ja, ich bin da schon ziemlich harsch mit mir selbst. Manchmal ist es so, dass z.B. bestimmte Passagen oder Momente in einem Werk vielleicht nach außen hin gut funktionieren und quasi erfolgreich sind, aber für mich formal oder in der Struktur nicht aufgehen. Das nehme ich dann sehr genau zur Kenntnis. Große Revisionen mache ich in der Regel an einem Stück nicht. Ich lasse es lieber los und versuche diese Erfahrung für ein nächstes Stück für mich aufzunehmen. Manchmal ändert sich die Einschätzung auch. Es kann sein, dass ich dasselbe Stück einmal geglückt und das andere Mal furchtbar finde. Ich bin auch mit meinem Urteil mir selbst gegenüber gar nicht immer eins. Und das hat dann überhaupt nicht mit den Interpret*innen zu tun oder dem Publikum. Das ist wirklich eine Sache zwischen mir und mir.

BK: Woran kann das liegen, dass du unterschiedlich reagierst?

SN: Das hat damit zu tun, was mich derzeit interessiert. Ich bin vielleicht von einer Sache gerade kompositorisch weggekommen, habe mich erneuert und kann etwas eigentlich überhaupt nicht mehr hören. Ich finde es furchtbar langweilig und denke: ‚Ach, was hast du da schon wieder gemacht.‘ Wenn ich dann aber zwei oder drei Jahre später nochmals auf dieses Stück gucke, habe ich mitunter genug Distanz, um zu sagen: ‚Oh, das war vielleicht doch ganz in Ordnung.‘ Aber dazwischen musste ich es erstmal innerlich ablehnen. Das passiert mir ziemlich häufig. Es ist ein wichtiger Prozess, um weiterzukommen. Und ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass es einerseits Aspekte gibt, die nur ein Stück betreffen, andererseits Phasen, in denen mich bestimmte Dinge kompositionsübergreifend interessieren, bestimmte Themen, Spieltechniken, Klänge, Strukturen. Es ist wie ein Gelände, in dem ich forsche und das auch wächst. Dann muss ich mich da aber manchmal quasi mit Gewalt rausziehen und woanders hingehen.

BK: Ich möchte Dich gerne etwas zu einem deiner Kammermusikstücke, die wir während des Lockdowns produziert haben, fragen. Im Duo WOLVES für Oboe und präpariertes Klavier gibt es ein paar gewalttätige Momente, die auch theatralisch herausgestellt sind. Z.B. zerschneidet der Oboist sein Rohrblatt. Kannst du erzählen, wie es dazu kam und warum das für dich sein musste für dich?

SN: Ja, das Stück ist wirklich etwas brutal. Aber es ist nicht nur aggressiv, auch zärtlich. Es ist 2012 im Auftrag meines früheren Oboenprofessors Burkhard Glaetzner entstanden. Ich habe bei ihm studiert und war danach freischaffend ca. zwei Jahre als Oboistin tätig. Dann habe ich mich mit einem Schnitt entschieden, aufzuhören Oboe zu spielen und mich nur noch auf die Komposition zu konzentrieren. Ich schrieb meine erste große Oper. Später hat Burkhard Glaetzner mir diesen Auftrag gegeben zum Abschied seiner Lehrtätigkeit an der UdK. Das ist schon an sich ein schwieriger Auftrag: Jemandem zum Abschied ein Stück zu schreiben. Er war nicht nur mein zweiter Oboenprofessor, sondern schon für die Entscheidung für das Instrument selbst wichtig für mich. Als Kind hatten wir CDs mit Vivaldi-Konzerten in seiner Interpretation und ich fand das so unglaublich schön, dass ich einfach unbedingt Oboe spielen wollte. Deswegen war er für mich als Kind schon eine wichtige Figur. Eigentlich ist es unmöglich, aber ich wollte all das in dieses Stück reinpacken plus meine eigene Beziehung zu diesem Instrument. Daher gibt es diese verschiedenen Ebenen, die mit der Oboe durchlaufen werden, auch verschiedene Register, verschiedene Farben. Und dann gibt es den ersten Schnitt am Rohrblatt, wodurch der Klang heller und unberechenbarer wird und dann den zweiten Schnitt, wodurch jeglicher Ton unmöglich wird und nur noch die Luftgeräusche da sind. Das ist natürlich eine theatrale Geste, aber es macht auch etwas mit dem Klang.

Sarah Nemtsov © Stephan Pramme

BK: Und in einem anderen Duo, das wir ebenfalls produziert haben: White Eyes Erased, für Drumset und Keyboard, gibt es auch visuelle Elemente, wie Dias, die auf eine Leinwand projiziert werden. Welche Verbindung haben die mit den Klängen, welche Bedeutung hat das?

SN: Das ist ein Stück, das ich destilliert habe aus einem großen Ensemblestück. Das ist bei mir schon ein paar Mal vorgekommen, was vielleicht daran liegt, dass mich Sachen immer noch weiter begleiten, oder dass ich so viel schichte, dass man dann wieder alles einzeln ausgraben kann. Das Keyboard hat 88 Samples und fast jede Taste ist mit einem Bild verknüpft. Ich habe einige Bilder bewusst bestimmten Klängen zugeordnet, eine Mischung einerseits von Bildern meiner Mutter, die Malerin war, andererseits gibt es Fotoprojektionen, die ein bisschen wirr sind und von der Ästhetik her aussehen wie eigene Handybilder, durch die man scrollt, quasi ungeordnet: einige Mauern, Filmstills von Maya Deren und Freaks, Bilder von Cage, wie er Pilze sucht, denn es gibt auch bei den Samples ein paar Cage Zitate, aber alles total verbogen und elektronisch verfremdet, man kann es nicht wirklich erkennen. Auch von der Band Animal Collective gibt es Schnipsel. Eine wilde Mischung und genauso sind die Samples eine wilde Mischung, die durcheinanderwütet.

BK: Noch eine Frage zu dem neuen Stück, für das du den Auftrag von uns bekommen hast. Du hast vorhin von Feldern erzählt, die du beackerst. Steckst du im Moment auch in so etwas drin, das in das Stück einfließen könnte?

SN: Ziemlich lange war das Theatrale bei mir wichtig; 2010 bis 2019 war das immer wieder von Bedeutung und tauchte in bestimmten Stücken auf. Und irgendwie hatte ich dann genug davon. Ich glaube, auch während Corona hatte ich das Gefühl, jetzt reicht es. Ich muss da weg. In der Zeit von Corona hat sich für alle von uns ja sehr viel geändert. Ich habe das Glück gehabt, dass ich weiter Aufträge hatte. Insofern konnte ich nicht klagen. Aber es hat trotzdem etwas mit mir gemacht. In gewisser Hinsicht bin ich vielleicht wieder mehr zu einem Kern gekommen. Ich habe in der Zeit ein Quintett geschrieben für das Ensemble intercontemporain, KETER. Das heißt Krone, also wie Corona, aber es hat auch andere Bedeutungen z.B. für die Heilige Schrift: Ketarim sind kleine Krönchen, Verzierungen der hebräischen Buchstaben, wenn die Thora geschrieben wird. Es gibt auch eine spirituelle Bedeutung von Keter: als höchste Sephira des kabbalistischen Baumes. Als ich dieses Quartett komponierte, spürte ich, hier ist eigentlich etwas, das ich nur beginne. Das gibt es manchmal bei mir, dass ich Stücke habe, bei denen ich denke, ich gehe jetzt hier in einen Bereich rein, ich öffne eine Tür und dahinter ist ein Gang und weitere Türen warten… Eigentlich müssten es mehrere Stücke sein. Ausgehend von KETER möchte ich nun für Herbst 2023 einen Zyklus schreiben, der sich mit dem Zwischenraum, der Lücke, den Möglichkeiten und auch dem Widerspruch zwischen Schrift und Auslegung beschäftigt, Physis und Psyche. Es sollen drei Stücke werden. Neben dem ersten, KETER, sollen zwei weitere entstehen, ein zweites Quintett und ein großes Ensemblewerk für euch, was verschiedene Gedanken zusammenbringt.

Ich freue mich darauf, denn ich habe Musikfabrik seit Jahren immer aus der Ferne gehört, beobachtet und habe einige Konzerte erlebt und Aufnahmen gehört. Das war sehr inspirierend für mich. Z.B. Liza Lim, Tree of Codes. Das fand ich beeindruckend, aber auch viele andere Sachen sind in meinem Gedächtnis lebendig und wichtig geblieben. Dann gab es unsere erste Zusammenarbeit in 2020, ganz kurz bevor der Lockdown kam, und schließlich die Lockdowntapes. In dieser Zeit war das etwas ganz Besonderes. Erstmal, dass überhaupt etwas stattfand. Ein tröstendes und ermutigendes Projekt von euch. Und dann zu spüren, obwohl wir gar nicht gemeinsam proben konnten, dass die Musik bei euch angekommen ist. Das sind für mich drei total schöne Aufnahmen, mit großer Lebendigkeit und Nähe, die in diesem Medium sonst gar nicht so leicht herzustellen ist. Ich freue mich auf die richtigen Begegnungen und unsere Zusammenarbeit in der kommenden Zeit.

Dezember 2021