Am 18. September 2018 jährt sich Mauricio Kagels Todestag zum 10. Mal. Wir gedenken daran mit einem Konzert in der Kölner Philharmonie.
In 2005 spielten wir mit Mauricio Kagel die Uraufführung seiner Kammersymphonie in Montreux. Ziemlich am Anfang des Werkes spielen Harfe und Klavier eine Arpeggienpassage im 3/8 Takt, drei Triolengruppen in der ersten Viertel, zwei Triolengruppen in der darauffolgenden Achtel. Die Geschwindigkeit der einzelnen Töne sollte dabei gleichbleiben, wodurch dann die letzte Achtel jedoch zu lang wurde.
Ich sprach Herrn Kagel auf diese mathematische Ungereimtheit an, er schüttelte aber nur den Kopf und meinte, ja, da wäre wohl etwas nicht ganz klar.
Am nächsten Morgen präsentierte er mir stolz die Lösung, skizziert auf einem Zettel: die beiden Triolengruppen neu unterteilt. Und damit hatte sich das Problem – für ihn – gelöst. Alles stimmte wieder.
Dieser Zettel ist in mehrfacher Hinsicht kennzeichnend für Mauricio Kagel: zuerst kommt für ihn die Musik. Sie ist das allerwichtigste und er setzt sich mit allem was er hat für sie ein, wobei er bei Bedarf auch tief in die Trickkiste greift – denn trotz seiner veränderten Gliederung ändert sich ja nicht die Geschwindigkeit der kleinen Noten: Die sechs Töne innerhalb einer Achtel bleiben immer noch um 33% schneller als die neun in der Viertel.
Und dann dieser Zettel an sich: Nicht mehr benötigte Fotokopien schnitt Kagel sorgfältig in vier Teile, benutzte die Rückseite als Notizzettel und nimmt diese anscheinend auch auf Konzertreisen mit. Auch selbst als geschäftlich arrivierter Komponist blieb er immer ein sparsamer und demütiger Diener seiner Kunst. Nie beschwerte er sich über fehlende Beinfreiheit im Flugzeug, er maß immerhin fast zwei Meter. Einfach das Taschentuch über die Augen, Brille drüber und er konnte entspannen.
Es gab bei der ersten Windrosetour einen relativ klapprigen Mercedesbus, sehr unkomfortabel und keiner von uns war zufrieden damit. Aber von Kagel kam diesbezüglich kein negatives Wort. Manchmal gab’s keine richtige Zeit zum Essen. Unvergessen in diesem Zusammenhang ist Kagel mit einem riesigen Döner in der Hand und dem Ausspruch: „Ich liiiiebe dieses türrkische Ess-ssen!“
Die meisten seiner Komponistenkollegen wollten die Neue Musik von traditionellem Ballast befreien. Kagel kam dieser Ballast aber gerade recht, er benutzte gezielt Tonkombinationen, um das Publikum über gewisse Erinnerungen an etwas schon mal gehörtes emotional zu erreichen. Er wusste genau, was er tat. Wenn er sagte „an dieser Stelle wird das Publikum unweigerlich klatschen“, dann hat das Publikum dort auch unweigerlich geklatscht.
Besonders eindrucksvoll waren seine kleinen Kunstgriffe: zum Beispiel am Ende von „Blue’s Blue“ sieht man ihn von der Seite reglos im Sofa, Kopf nach hinten, der rechte Arm hängt leblos herunter, die Fingerspitzen halten eine Mütze. Nichts passiert. Im Publikum kommt langsam eine gewisse Unsicherheit, ob das Stück jetzt wohl vorbei ist, … oder doch noch nicht?… bis Kagel nach genau der richtigen Zeit die Mütze mit einem leichten Wegschnippen zu Boden fallen lässt – und wieder hat das Publikum unweigerlich geklatscht.
Und fleißig war er: „Meine Frau wünschte sich einen Videorekorder. Jetzt steht er da und keiner weiß, wie er funktioniert.“ – „Das kann man doch in der Anleitung nachlesen.“ – M.K. etwas entrüstet: „Wissen Sie, wie viele Noten ich schreiben kann in dieser Zeit!“
Ulrich Löffler, Klavier