12. September 2018

Erinnerungen an Mauricio Kagel – 1

Am 18. September 2018 jährt sich Mauricio Kagels Todestag zum 10. Mal. Wir gedenken daran mit einem Konzert in der Kölner Philharmonie.

Was mich an Mauricio Kagel besonders beeindruckte, war seine kindliche Begeisterung. Und seine eigene Begeisterung wirkte auf uns wie auf das Publikum ansteckend. Er liebte leidenschaftlich die Musik, seine Musik. Dabei war kein Hauch von Arroganz zu spüren, eher von Authentizität und von Freude. Er freute sich über seine Ideen, und noch vielmehr freute er sich, wenn das, was er wollte, so funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte. Und wenn beim Publikum dann die gewünschte Wirkung eintrat, war er glücklich, und ein breites Lächeln ging über sein Gesicht. Das machte ihn sympathisch. Und ja, er war dann auch stolz, stolz wie ein Kind, und er war ehrlich genug, dazu auch zu stehen. „Ich weiß, dass ich ein Klassiker bin“, sagte er. Er suchte gerne das Gespräch mit uns Musikern und war für uns wie eine Art Großvater.

Er war von großer Gestalt und hatte ein unglaubliches Charisma. Seine markant tiefe sonore Stimme klingt uns noch heute in den Ohren. Wenn er den Raum betrat, zog er unweigerlich alle Aufmerksamkeit auf sich, und wenn er auf die Bühne ging, gehörte ihm der ganze Saal. Mit seinen riesigen Händen gestikulierte er eindrucksvoll seine Musik. Jede Probe und jede Aufführung wurde so zu einem einmaligen Erlebnis voller Inspiration. Dennoch war er kein zuverlässiger Dirigent und wir Musiker mussten wirklich auf alles gefasst sein. Da wir die meisten Stücke recht gut kannten, konnten wir manch wackelige Situationen in den Aufführungen meistern. Er wusste das und war uns immer sehr dankbar dafür. So sagte er, als wir ihm nach einer Windrose-Aufführung gratulieren wollten: „Mea culpa, ich konnte die Partitur nicht lesen, ich hatte die falsche Brille auf…“, oder ein anderes Mal: „Ein paar Sachen sind passiert… aber wir haben Musik gemacht!“ Und da war es wieder, dieses glückliche Lächeln!

Kagel war sehr bodenständig, besaß viel Humor und feierte nach einem gelungenen Konzert gerne mit uns Musikern. Dabei hat er gern gut gegessen und getrunken und dabei viele Geschichten aus seinem Leben erzählt. Als wir nach einer solchen langen fröhlichen Nacht am nächsten Morgen sehr früh zum Flughafen mussten und er uns ungefrühstückt und wortkarg in der Hotelhalle auf den Bus warten sah, meinte er trocken: „Ich habe einen neuen Namen für das Ensemble…“ und fuhr nach einer langen Fermate begleitet von rätselnden Gesichtern fort: „Leichenfabrik.“

Zu unserem letzten Projekt mit ihm kurz vor seinem Tod erschien er ungewohnter Weise mit Bart. Nie zuvor hatte ich ihn mit Bart gesehen. Ich begrüßte ihn und sprach ihn darauf an. „Ja“, sagte er, „der letzte Beweis meiner Männlichkeit. Ich war im Hospital und konnte mich nicht rasieren. Und meine Frau meinte ‚Ach, das sieht doch so besser aus!‘“

Von den Proben zu diesem letzten Kagel-Konzert im Jahr 2008 gibt es kleine Film- und Tondokumente, die ich bis heute auf meinem Handy gespeichert habe, sozusagen meine persönlichen Kagel-Erinnerungen. So werde ich ihn, seine Stimme und seine riesigen Hände nie vergessen. Für mich persönlich war es ein großes Privileg, einen solchen Künstler über mehrere Jahre hindurch hautnah erleben zu dürfen. Gelernt habe ich viel von ihm, am meisten jedoch die Überzeugung, dass ein Künstler lieben können muss, was er tut.

Dirk Wietheger, Violoncello