1985 war Unsuk Chin 24 Jahre alt, voller Tatendrang und Abenteuerlust. Und obwohl sie bereits einige Kompositionspreise gewonnen hatte, wollte sie sich den letzten Feinschliff unbedingt beim Neue Musik-Granden, György Ligeti, in Hamburg holen. Doch kaum hatten sich beide das erste Mal getroffen, muss Ligeti wieder einmal seine berühmte „Motzmiene“ (Unsuk Chin) aufgesetzt und seine zukünftige Studentin auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt haben: „Ligeti sagte zu mir, alle meine Kompositionen wären unoriginell und ich sollte sie lieber wegwerfen.“ Das saß. Die nächsten drei Jahre konnte Chin keine Note mehr zu Papier bringen. Trotzdem blickt sie heute nicht im Groll auf ihre Hamburger Jahre zurück. Immerhin verband sie mit ihrem schonungslosen Lehrer der grundlegende Zweifel an einer fortschrittsgläubigen Musik-Avantgarde: „So viele Dinge, von denen wir glauben, wir hätten sie erfunden, existieren bereits – in der frühen europäischen wie in der nichteuropäischen Musik.“

Das musikalische Rad will Unsuk Chin seitdem nicht mit aller Macht neu erfinden. Und dennoch gehört die gebürtige Südkoreanerin und inzwischen eingefleischte Wahl-Berlinerin längst zu den faszinierendsten, fantasievollsten und damit eben doch erfindungsreichsten Stimmen innerhalb der zeitgenössischen Musikszene. Von Simon Rattle bis zum Kronos Quartet spielen prominenteste Interpreten ihre Stücke. 2007 wurde ihre von Kent Nagano in München dirigierte Oper Alice in Wonderland gar zur „Uraufführung des Jahres“ gewählt. Und bereits drei Jahre zuvor, 2004, erhielt die Komponistin für ihr Violinkonzert den mit 200.000 Dollar dotierten „Grawemeyer Award for Music Composition“.

Unsuk Chins cosmigimmicks wurde 2012 in Amsterdam vom Nieuw Ensemble uraufgeführt. Ein Jahr später, im April 2013, fand im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik die Deutsche Erstaufführung statt. Als „Pantomime“ bezeichnet die Koreanerin ihre Komposition für sieben Musiker. Inspiriert hat sie dazu das Instrumentarium des Uraufführungsensembles. „Zupfinstrumente (Gitarre, Mandoline und Harfe) spielen die Hauptrolle, während sich die anderen Instrumente (präpariertes Klavier, Violine, Trompete und Schlagzeug) verkleiden, um sich einem Masken- und Mimikryspiel anzuschließen“, so Chin in ihrem Werkkommentar. „Häufig verschmelzen alle Instrumente zu einem einzigen ‚Superinstrument‘: Sowohl der Pianist als auch der Geiger ahmen die Zupfinstrumente nach, die ersteren durch Vorbereitung, die letzteren durch Anwendung ungewöhnlicher Spieltechniken. Last but not least wird die Reihe der Schlaginstrumente (die teilweise auch vom Trompeter gespielt werden) eingesetzt, um mit den anderen Instrumenten eine größtmögliche Symbiose des Klangs zu erreichen. Das gesamte Timbre des Stücks ist metallisch und sehr zerbrechlich.“

Was sich jedoch hinter dem Titel „cosmigimmicks“ verbirgt, will Chin nicht verraten. Zerlegt man den Titel aber beispielsweise in „Kosmos“ und „Gimmicks“, könnte man ihn als „Universelles Werbegeschenk“ bezeichnen. Ihren Sinn fürs Nonsensehafte hat Chin jedenfalls von ihrem alten und überaus strengen Lehrer György Ligeti, dem sie nun auch den dritten Satz „Thall“ gewidmet hat.

Guido Fischer

Wenngleich das Stück offiziell als „Pantomime“ fungiert, hat gleich der erste Satz „Shadow Play“ nichts mit dieser jahrtausendealten Ausdrucksform zu tun, sondern erinnert an die Kunst des Schattenpuppentheaters. „Es beginnt mit bloßem Rauschen, aus dem allmählich Töne und Harmonien entstehen. Die musikalischen Gesten sind schattenhaft. Diese Gesten sind rätselhaft, unfassbar und unvorhersehbar wie Kafkas Odradek.“ Der zweite Satz „Quad“ geht auf zwei gleichnamige Fernsehspiele von Samuel Beckett zurück, die der irische Schriftsteller 1981 für den Süddeutschen Rundfunk produzierte. Darin schreiten die Schauspieler ein Quadrat auf geometrisch strengen Wegen ab. Bei Unsuk Chin wird daraus eine streng rhythmische Szenerie, in der sich jedes Instrument in eine Art Schlagzeug verwandelt. Der Titel des dritten Satzes „Thall“ ist schließlich Koreanisch und bedeutet ‚Maske‘. „Die Gitarre steht im Zentrum dieses Satzes und spielt eine Quasi-Melodie, die aus wenigen Mikrotönen besteht und immer wieder wiederholt wird. In Übereinstimmung mit den sich ändernden Harmonien der anderen Instrumente ändert sich diese ‚Melodie‘, ähnlich einer Transformation des Gesichtsausdrucks einer Pantomime. Der Gesamtcharakter von „Thall“ ist sowohl leicht sentimental wie auch makaber und beschreibt die Psyche einer zerrissenen Person, wobei die Veränderung der mentalen Zustände durch Veränderung der harmonischen Sprache veranschaulicht wird.“

Unsuk Chin, Komponistin / 09.06.2013 / WDR / Koeln