28. September 2021

Stockhausens „Klavierstücke“

Benjamin Kobler erweitert die Sammlung an Stockhausens Klavierstücken bei Label Musikfabrik. In unserem Interview spricht der Pianist über seine Verbindung zu den Kompositionen und seine Arbeit mit Stockhausen selbst.

Du hast bereits die Klavierstücke VII bis XI aufgenommen. Nun folgen I bis V. Was fasziniert dich an diesem Zyklus?

Mich fasziniert an dem Zyklus der Klavierstücke, dass er in einer kompositorisch sehr aufregenden und offenen Zeit entstanden ist, in der die Komponisten des Serialismus in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in einer experimentellen Offenheit ihre ganz eigene Musiksprache auf einer Entdeckungsreise ins Neue und Unbekannte entwickelt haben. Sehr begeistert bin ich davon, dass Stockhausen eine persönliche und unverwechselbare Tonsprache gefunden hat, und im Verlaufe des Zyklus sich das individuelle daran immer deutlicher heraus schält. Es beginnt bei den ersten Stücken, die sehr radikal die Musik auf ihre grundlegenden Parameter Tonhöhe, Tondauer und Intensität herunterbrechen. Fortfolgend werden einzelne Töne bzw. Tonpunkte in Gruppen zusammengefasst und so nach und nach in immer zunehmender Komplexität angeordnet, bis dann ab dem Klavierstück VII ganz spezielle Klanglichkeiten mit wunderschönen Flageolettresonanzen zum Tragen kommen. Ganz besonders ist auch die wahnwitzige und hoch virtuose Verwendung von Clustern im Klavierstück X, die ohne Vorläufer ist, das Klavier auf eine einzigartige Weise zum Klingen bringt und den Interpreten eine körperlich derart neue Spielsituation mit dem Instrument erleben lässt, dass es eine wahre Freude ist.

Auch heute noch, fast 60 Jahre nach ihrem Entstehen und 25 Jahren nach dem Beginn meiner persönlicher Beschäftigung mit ihnen, höre ich diese Stücke als ungebrochen modern, frisch und voller Vitalität. Besonders die Neugier auf Unbekanntes und die bei dieser Suche auftauchenden unerwarteten Schönheiten inspirieren mich immer wieder aufs Neue. Für mich persönlich zählt der Zyklus der Klavierstücke von Stockhausen zu den Meilensteinen des Repertoires im 20. Jahrhundert.

 

Karlheinz Stockhausen schrieb die Klavierstücke über einen Zeitraum von über 50 Jahren. Würdest du trotzdem sagen, dass sie ein zusammenhängender Zyklus sind? Was verbindet die Stücke?

Stockhausen komponierte seine Klavierstücke über diesen großen Zeitraum, wenn man die Klavierstücke XII – XIX, die aus dem Opernzyklus „LICHT“ stammen, und den Zyklus „NATÜRLICHE DAUERN“ dazu zählt. Es sind nicht alle diese Klavierstücke von ihm als ein einheitlicher Zyklus gedacht. Allerdings verbinden einige Elemente diese Stücke, zum Beispiel:

– die architektonische Herangehensweise an die musikalische Form

– die innere Ruhe, sehr lange Nachklänge und Pausen zuzulassen

– eine spezifische Form von Affinität zum Klavierklang

– eine quasi physikalisch-akustisch-wissenschaftliche Analyse des Klangs durch die Komposition

– eine durch und durch klar und heiter gestimmte Atmosphäre

– eine pianistisch gedachte Klangsprache, die das Spielen der Stücke vom instrumental technischen Gesichtspunkt her sehr natürlich machen.

Die Stücke, die ich für das Label aufgenommen habe, also die Stücke I bis XI, waren tatsächlich von Anfang als ein Zyklus konzipiert. Sie alle teilen die gleiche Klangsprache und verwenden dieselben konstruktiven Techniken beim Komponieren. Ohne hier zu weit ausholen zu wollen, kann man verkürzt sagen, dass sehr viele Elemente der Kompositionen durch Zahlenreihen von 1 bis 6, die in magischen Quadraten angeordnet sind, gesteuert werden.

Stockhausen hat von den Klavierstücken als „meine Zeichnungen“ gesprochen. Kann man sie als Skizzen oder Studien in anderen, großformatigeren Werke wieder erkennen?

Den Begriff „meine Zeichnungen“ für die Klavierstücke habe ich immer so aufgefasst, dass Stockhausen damit sagen wollte, dass man in ihnen seine Musik wie auf den Kern reduziert wahrnehmen kann, und in dieser Reduktion der Mittel wie durch ein Brennglas die entscheidenden Absichten womöglich sogar deutlicher wahrzunehmen sind. In den elektronischen Stücken, den Kammermusik- und Orchesterwerken finden sich die gleichen musikalischen Prinzipien wieder, die Stücke aus dieser Zeit sind ja alle mit der gleichen Kompositionstechnik geschrieben, nur klingt hier alles opulenter und reichhaltiger. So wie in der Malerei vergleichbar der Unterschied zwischen einer Bleistiftzeichnung und einem farbigem Ölbild zu sehen wäre.

 

Du hast über viele Jahre mit Stockhausen zusammengearbeitet. Wie hast du die Zusammenarbeit empfunden?

Als junger Student haben mich mehrere Konzerte mit Musikern, die intensiv mit K. Stockhausen gearbeitet haben, tief beeindruckt. Die Aneignung der Kompositionen bis ins letzte Detail, das auswendige Spielen dieser modernen und komplizierten Partituren, die totale Verinnerlichung des Notentextes und die Hingabe beim Spiel hoben sich für mich deutlich und erfrischend von anderen Konzerten neuer Musik ab, die ich damals hörte. So erwuchs mit der Zeit der immer dringlicher werdende Wunsch, dem Geheimnis dieser intensiven Interpretationen auf den Grund zu gehen, und womöglich selbst meinen eigenen Weg in diese Richtung einzuschlagen. Ab 1998 hatte ich dann glücklicherweise die Gelegenheit, durch die Stockhausen-Kurse in Kürten in direkten Kontakt mit Stockhausen zu kommen, und in der Folge entwickelte sich eine persönliche Zusammenarbeit, der ich ungeheuer viele Impulse für meine weitere musikalische Entwicklung und künstlerische Formung verdanke. Wir haben gemeinsam viele Uraufführungen neuer Werke erarbeitet, und neben den Werken „Kontakte“ und „Mantra“ auch unzählige Stunden in den Proben und Aufführungen der Klavierstücke verbracht. Stockhausen konnte einerseits durch sein eigenes Beispiel zeigen, wie genau er Tempi, Lautstärken, Artikulationen etc. sich sowohl vorstellen konnte als auch hörend zu kontrollieren in der Lage war. Wenn er in einem Stück das Tempo Achtel gleich 40 schrieb, dann wollte er auch genau dieses Tempo hören und kein anderes, und konnte dieses in der Probe mühelos sofort im richtigen Tempo vorsingen, und dem Spieler auf seine Abweichung (schnelleres oder langsameres Tempo) hinweisen. Andererseits konnte er durch seine minutiöse und in ihrer Intensität und Unbedingtheit nie nachlassenden Arbeitsweise die mit ihm arbeitenden Musiker dazu in die Lage versetzen, genau diese Fähigkeiten der Präzision und Kontrolle zu erlangen.