20. August 2019

Ryoko Aoki and Noh Theatre

Peter Eötvös im Gespräch mit Martina Seeber über Secret Kiss (2018), das am 8. September beim Musikfest Berlin uraufgeführt wird.

Japan ist im Schaffen des ungarischen Komponisten Peter Eötvös mehr als nur ein ferner Sehnsuchtsort. Die Kultur fasziniert ihn seit er 1970 mit Karlheinz Stockhausen zur Weltausstellung reiste. Dass er in Secret Kiss einmal mehr gen Osten blickt, hat allerdings mit der Initiative einer jungen Künstlerin zu tun, die zu Expo-Zeiten noch nicht geboren war. Secret Kiss ist ein Auftrag der Schauspielerin und Sängerin Ryoko Aoki. Sie ist nicht nur als weibliche Noh-Darstellerin eine Ausnahmeerscheinung in der traditionell männlichen Theaterform, sondern versucht zugleich die Gattung zu erneuern, indem sie ihm Rahmen ihres Projekts Noh x Contemporary zeitgenössische KomponistInnen zu neuen Werken anregt.

Peter Eötvös, Sie sind als Komponist in der glücklichen Lage, sich ihre Aufträge aussuchen zu können. Warum sind Sie Ryoko Aokis Wunsch nachgekommen?

Ich kenne Ryoko Aoki, seit sie zum ersten Mal mein Musiktheater Harakiri aufgeführt hat. Seither stehen wir in ständigem Kontakt. Ihre Stimme und ihr Charakter sind unverwechselbar, auch ihre Art, das Noh-Theater mit Gesang und zeitgenössischer Musik zu verbinden, ist einmalig. Es ist ihre Erfindung.

Da ich sie sehr gut kannte, wusste ich, was ich für sie schreiben kann. Und so entstand Secret Kiss auf der Grundlage von Alessandro Bariccos Novelle Seide.

Ryoko Aoki hat das Noh-Theater an der Universität Tokio als einzige weibliche Studentin ihres Jahrgangs studiert, anschließend in London eine Doktorarbeit über Frauen im Noh-Theater verfasst. Auf Bühnenfotos sieht man sie im schlichten schwarzen Designerkleid oder in opulenten Kimono-Neuschöpfungen, oft mit der traditionellen Maske. Was ist Ryoko Aoki für eine Künstlerpersönlichkeit?

Sie ist unglaublich diszipliniert. Diese Disziplin kommt eigentlich aus der Tradition des Noh-Theaters. Die Darsteller lernen, diese Disziplin nicht nur auf der Bühne, sondern auch im täglichen Leben zu praktizieren und beizubehalten. In Unterhaltungen spricht Ryoko Aoki unglaublich sparsam, aber sie formuliert immer sehr genau. Und man merkt bei der Arbeit, dass sie musikalisch ebenso gebildet ist wie auf dem Gebiet des Theaters. Diese Doppelfunktion, dass sie sowohl Musikerin ist als auch Noh-Theater spielen kann, ist ihre besondere, einmalige Qualität.

Das japanische Noh-Theater ist eine Kunstform, die sich lange nicht verändert hat. Was fasziniert sie als Komponist daran?

Noh ist eine der ältesten bekannten Theaterformen der Welt. Sie wurde im 14. Jahrhundert von Meister Zeami, dem ersten große Theatermann, entwickelt. Ich selbst habe die erste Noh-Theater-Vorstellung 1970 gesehen, im Jahr der Weltausstellung in Osaka. Damals war ich Mitglied des Stockhausen Ensembles und habe mit dem Ensemble sechs Monate in Japan verbracht. Diese langen Monate haben mich sehr stark beeinflusst, auch künstlerisch. Ich bin als Künstler an vielen Themen interessiert, die japanische Kultur ist aber ein Gebiet, das ich schon lange pflege.

Ihre kreative Auseinandersetzung begann kurz nach der Expo in Osaka mit Harakiri.

1972 habe ich im Auftrag des WDR mein erstes szenisches Werk geschrieben. Zwei Jahre zuvor hatte der japanische Schriftsteller Yukio Mishima Selbstmord begangen. In Harakiri habe ich zum ersten Mal ein japanisches Thema behandelt, mit einem japanischen Text und japanischen Instrumenten. Es ist für zwei Shakuhachi geschrieben, diese Flöten sind Instrumente des Zen-Buddhismus. Das war meine erste kompositorische Berührung mit Japan. Jahre später habe ich mich mit dem berühmten Tagebuch der japanischen Hofdame Sarashina auseinandergesetzt. Ihre 1000 Jahre alten Texte sind ein Schatz der japanischen Kultur. Jeder Japaner kennt sie. Daraus habe ich As I crossed a bridge of dreams für die Donaueschinger Musiktage 1999 komponiert.

Aus denselben Texten ist 2008 ihr Musiktheater Lady Sarashina entstanden. Alle 10 bis 20 Jahre kommen sie auf Japan zurück?

Ja [lacht] und als meine erste Oper Die drei Schwestern nach Anton Tschechov 1998 in Lyon uraufgeführt wurde, war der Regisseur ein Japaner, Ushio Amagatsu. Es war ein russischer Text, von einem japanischen Regisseur für ein französischen Publikum inszeniert, von einem Ungarn komponiert. Das war damals „Weltmusik“. Jetzt hat gerade die erste russische Aufführung in Jekaterinenburg stattgefunden.

In Secret Kiss sind die Wege nicht minder verschlungen. Der Italiener Alessandro Baricco schreibt eine Novelle über einen Franzosen, der im 19. Jahrhundert nach Japan reist. Sie als Ungar komponieren im 21. Jahrhundert ein Melodram für eine junge japanische Noh-Theater-Darstellerin, die das traditionelle Theater zu erneuern versucht und mit ihren Auftragswerken auf Welttournee geht. Eine sehr komplexe Gemengelage. Wie gehen Sie als Komponist damit um?

Es ist eine Zeiterscheinung, sie ist typisch für unsere Zeit, obwohl das Phänomen natürlich nicht neu ist. Auch zu Mozarts Zeiten hat die westliche Kultur türkische und arabische Einflüsse aufgenommen. Aber in Secret Kiss war es auch noch so, dass meine Frau, eine Ungarin, den Text bearbeitet hat, der dann auf japanisch übersetzt wurde.

Der Text von Alessandro Baricco handelt von der Verbindung zwischen zwei Kulturen: der französischen und der japanischen. Ein Franzose will im 19. Jahrhundert das Geheimnis der Seidenproduktion erkunden. Er reist nach Japan und erlebt dort verrückte Sachen. Ich verwende für Secret Kiss nur einen kleinen Teil der Erzählung. Der Franzose erblickt bei einer Besprechung mit dem Boss der japanischen Seidenindustrie ein Mädchen. Dieses Mädchen, das offensichtlich keine Asiatin ist, liegt auf dem Schoß des Seidenproduzenten. Ich finde die Szene wunderschön. Diese zwei Europäer haben einen stillen Kontakt miteinander, sie tauschen sich nur über Blicke aus und dadurch, dass sie die Teetasse so drehen, dass sie jeweils am selben Punkt daraus trinken. An diesem Ort, an dem die Lippen die Teetasse berühren, entsteht der „geheime Kuss“, der allein von der kleinen Teetasse übermittelt wird.

Wie gehen sie in ihrer Komposition mit dieser wortlosen Begegnung um?

Ich lasse die Szene erzählen. Ryoko Aoki deklamiert Alessandro Barricos Worte auf japanisch.

Das heißt, es gibt keine gesungenen Dialoge, sondern eine Erzählung.

Und dazu habe ich eine schöne Musik geschrieben. Ein im Stil des japanischen Noh-Theaters gesprochenes Melodram. Der Text wird deklamiert, gesungen und gesprochen, langsamer und schneller. Es ist ein ganz spezieller Stil entstanden.

Harakiri haben sie für japanische Instrumente komponiert. Hier sind es nun fünf europäische Instrumente: Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Schlagzeug. Findet die japanische Musik hier trotzdem ein Echo?

Harakiri war damals nicht nur im Hinblick auf die Instrumente, sondern auch musikalisch sehr japanisch. Für dieses neue Stück habe ich einen eigenen Stil gefunden, der nur zu diesem Melodram gehört. Man könnte sagen, dass ich jede Oper in einer anderen musikalischen Sprache komponiere. Meine Musiksprache steht immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen Thema und der Frage, wie ich etwas erzählen will. Ich habe keine eigene Sprache. Die Eötvös-Sprache zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer die Sprache eines einzelnen Stückes ist.

Und zu dieser Sprache gehören in diesem Fall auch Gesten?

Der Schlagzeuger steht in zentraler Position. Die große Trommel steht hinten in der Mitte, frontal zum Publikum. Wenn Ryoko Aoki erzählt, dass der Franzose an dieser bestimmten Stelle aus der Tasse getrunken hat, wird der Schlagzeuger auf dem Trommelfell Stück rotes Klebeband anbringen, Dann kommt das Mädchen, sie trinkt an derselben Stelle und der Schlagzeuger klebt er einen zweiten roten Strich darüber, sodass ein rotes Kreuz zu sehen ist. Eine kleine Theatralität ist vorhanden. Mit der japanischen Tradition des Noh-Theaters hat sie allerdings nichts zu tun. Es ist eher mein eigener Spaß, die Handlung auch ein bisschen visuell darzustellen.

Alessandro Baricco, der seine Laufbahn als Musikkritiker begonnen hat, hat seine Sprache als „weiße Musik“ beschrieben, als „Stimme ohne Farbe“. Wie hören sie seine Werke?

Ich beziehe diese Aussage auf alle seine Bücher. Ich habe viel von ihm in ungarischer Übersetzung gelesen, den Text von Seide aber auch im italienischen Original. Alle seine Bücher haben eine unglaubliche Stille. Die Art, wie er erzählt, ist nicht laut. Sie ist sehr nobel. Er lässt eine scheue Person auftreten, die ihre Geschichten nur ganz leise erzählt, das ist fantastisch.

Sehen Sie in dieser Reduktion eine Verbindung zum Noh-Theater?

Mir ist es sehr leicht gefallen, diesen Text mit dem Noh-Theater zu verbinden. Es reicht ja nicht, dass die Geschichte in Japan spielt. Das wäre mir zu wenig. Alessandro Bariccos Stil und meine Art, Musik zu diesem Text zu schreiben, sind sehr nah, sehr verwandt.