7. Februar 2017

Die Dramaturgie hängt von der Intelligenz des Ausführenden ab

Florentin Ginot spricht mit Vinko Globokar

Sie schreiben ein neues Stück für das Ensemble Musikfabrik mit dem Titel Les Soliloques décortiqués (Sezierte Selbstgespräche). Uraufgeführt wird es im März 2017 im WDR in Köln. Bitte erzählen Sie von dem Werk!
Den Titel habe ich gewählt, weil alle 16 Musiker Solisten sind. Einer nach dem anderen spielt sein Solo, und die Gruppe der 15 übrigen Interpreten – die sich folglich bei jedem Wechsel verändert – seziert das, was der Solist spielt: Tonhöhen, Rhythmen, Dynamik, Morphologie der Töne etc. Besonders interessant dabei ist, dass ich mich im Alter von 82 Jahren entschlossen habe, meine schon erworbene Berufserfahrung validieren zu lassen (Validation des Acquis de L’Expérience) und zu promovieren. Man hat mich gebeten, ein Werk zu schreiben und es all meinen früheren Werken gegenüberzustellen. Im Laufe meines Lebens habe ich 180 Stücke für alle möglichen Besetzungen geschrieben. Folglich habe ich Soliloques von einer sehr didaktischen Warte aus in Angriff genommen, sodass ich alles, was ich schreibe, auch erklären kann. Dabei habe ich mich auf rein musikalische Parameter beschränkt: Jegliche Form von Theater, von Instrumentaltechniken und alle politischen Aspekte habe ich ausgeklammert, obgleich all das unterschwellig immer mitschwingt, da sich die anderen 180 Stücke ja mit diesen Themen auseinander setzen. Die Musiker der Musikfabrik kenne ich seit den Anfängen des Ensembles vor 25 Jahren – wenngleich nicht die aktuelle Besetzung. Beim Komponieren bin ich entsprechend bis an die Grenzen der instrumentalen Möglichkeiten gegangen …

Sie sprechen oft von der „Erweiterung der instrumentalen Möglichkeiten“ – wenden Sie diesen Ansatz auch auf Soliloques an?
Das gehört sozusagen zu meiner Auffassung von Musik: Ich habe keine zwei Stücke mit der gleichen Fragestellung komponiert. Wenn ich ein Stück schreibe, entscheide ich, über welches Thema ich sprechen möchte, und dann schließe ich dieses Thema auch ab. Dabei bildet immer eine Idee den Ausgangspunkt, aber ich weiß vorher nicht, in welche Richtung sich das Stück entwickeln wird …

Bei dem Programm des Konzerts im März steht Ihr Werk neben Musik von Luciano Berio, der Ihr Lehrer war, aber auch für Sie komponiert hat.
Meine Geschichte mit Berio nahm ihren Anfang, als ich 30 Jahre alt war. Obwohl ich vier Jahre Unterricht bei René Leibowitz genommen hatte, der ein leidenschaftlicher Verfechter der Moderne war, wurde mir bewusst, dass ich nichts verstanden hatte von der musikalischen Sprache der Nachkriegszeit, die grundlegende Veränderungen mit sich brachte! Aus diesem Grund wurden Berio und ich Freunde, als er für mich die Sequenza V für Posaune schrieb, und ich bat ihn, mir in Berlin Unterricht zu geben. Wir sprachen nur wenig über Musik, eher über Ethnologie, über Claude Lévi-Strauss, über Politik etc. … also Themen außerhalb der Musik. Genau dadurch wurde mir damals klar, dass die Ideen aus dem Leben selbst entstehen und nicht aus der Ästhetik. Nach dem Krieg hat eine Generation von Komponisten, die alle 20 Jahre alt waren, die experimentelle Musik erfunden: Stockhausen, Boulez, Berio, Nono, Ligeti, Pousseur. Sie schufen eine ungehobelte Kunst, weil sie sich um das Publikum nicht scherten.

Was diese Ungehobeltheit anbelangt, heutzutage …
Die gibt es nicht mehr! In den 1980er-Jahren begann man in der Presse von Globalisierung zu sprechen, ein rein wirtschaftliches Thema, bei dem es darum geht, alle auf dieselbe Spur zu bringen. Bereits zehn Jahre zuvor hatte die Kunst begonnen sich zu isolieren, das heißt, die Leute wurden nach und nach zu absoluten Individualisten. Heute machen Künstler interessante Sachen, der eine in Finnland, der andere in Australien, aber man spricht nicht mehr von einer Bewegung: Sie sind schöpferische Menschen, aber voneinander isoliert. Sie stellen eine individualistische Gegenströmung dar, und bei den meisten Werken spielen auch das Geld, Floskeln und Artigkeiten eine Rolle. Im Alter von 82 Jahren habe ich den Eindruck, allein zu sein. Aber glücklich! (lacht)

Sie sind Instrumentalist, Improvisator und Komponist – wie haben Sie Ihr eigenes Universum und Ihre Beziehung zum Interpreten entwickelt?
In chronologischer Reihenfolge: Ich bin in Frankreich in einem Bergbaurevier zur Welt gekommen. Ab meinem sechsten Lebensjahr habe ich Klavier und Tambura, die slowenische Gitarre, bei einem slowenischen Lehrer gelernt, der von einem Bergwerk zum nächsten reiste. Als ich 13 Jahre alt war, ging meine Familie nach Jugoslawien, weil das Bergwerk geschlossen wurde. Dort habe ich mit Posaune angefangen. Unter Tito musste damals jeder Zwanzigjährige für ein oder zwei Jahre zum Militär. Es gab seinerzeit eine fantastische Big Band beim Radio, und als zwei Musiker zum Militär gingen, habe ich sie ersetzt – ich war damals 17. Nach dem Krieg sendete ein amerikanisches Spionageschiff von der Adria aus antisowjetische Propaganda, und zwischen 23 Uhr und Mitternacht gab es eine Sendung über experimentellen Jazz der 1950er- und 1960er-Jahre. Wir kannten damals also all die großen Bands in- und auswendig: Stan Kenton, Woody Herman, Count Basie! Als ich drei Jahre später ein Stipendium für Paris bekam, begann ich sofort in den Jazzclubs zu spielen. Und bis ich 30 war, schrieb ich Musik für Big Bands. Erst mit 30 fing ich an zu komponieren.

Sie haben viel Erfahrung im Improvisieren – was in Ihren Kompositionen überlassen Sie der Freiheit des Interpreten?
Wenn ich schreibe, gebe ich in den Stücken absolut alles vor! In meinen komponierten Stücken lasse ich keine Freiheiten und es gibt kein Quäntchen Improvisation. Wenn ich dagegen meine Posaune nehme und mit anderen improvisiere, bin ich gleichberechtigt, da habe ich nichts zu sagen. Gegen kontrollierte Improvisation bin ich allerdings absolut allergisch. Und dass es bei der Notation Dinge gibt, die eigentlich gar nicht machbar sind, sehe ich auch so. Aber Dinge zu schreiben und festzulegen, die eigentlich nicht machbar sind, beeinflusst den Ausführenden psychologisch anders.

In welchem Maße wird der Musiker bei Ihren Stücken zum Träger der szenischen Dramaturgie?
Die Dramaturgie hängt von der Intelligenz des Ausführenden ab. Aus ein und demselben Stück mit einer strikt festgelegten Notation kann ein intelligenter Instrumentalist eine fantastische Darbietung machen, das gleiche Stück kann aber auch zum Desaster werden – abhängig von der Vorbildung des Musikers. Mein Percussion-Stück ?Corporel beispielsweise ist die Geschichte eines Menschen, der seinen Körper mit Gesten erforscht. Wie man das umsetzt? Ich bin kein Schlagzeuger, ich habe keine Ahnung, wie das geht. Es hängt von der Intelligenz des Darbietenden ab: Was für ein Mensch ist er oder sie, welche Art von Ausbildung hat er, wo kommt er her?

Und hängt es auch davon ab, was der Musiker in Richtung des Publikums projiziert – also darbietet und als Feedback zurückerhält?
Ich interessiere mich nicht für das Publikum. Auch aus diesem Grund schrecke ich vor Solo-Improvisation zurück, denn wer improvisiert, ist allein, ohne Stimulation von außen, also kann er von sich auch nur preisgeben, was er bereits kennt, und es gibt keine Überraschungen. Für mich befindet sich das Publikum immer hinter einer Scheibe. Die Darbietung des Musikers hängt auch von seiner Intelligenz ab. Die Scheibe existiert jedenfalls, ob das Publikum die Darbietung nun mag oder nicht. Ich bin ganz einfach deshalb auf einer Bühne, weil ich meine innersten Gedanken zum Ausdruck bringen möchte.

31. Oktober 2016