31. Mai 2013

Unsuk Chin | Graffiti (2013)

Kommentartext zur deutschen Erstaufführung am 9. Juni | musikFabrik im WDR

„Meine Musik“, sagte die koreanische Komponistin Unsuk Chin einmal, „ist die Abbildung meiner Träume. Die Visionen von immensem Licht und von unwahrscheinlicher Farbenpracht, die ich in allen meinen Träumen erblicke, versuche ich in meiner Musik darzustellen als ein Spiel von Licht und Farben, die durch den Raum fließen und gleichzeitig eine plastische Klangskulptur bilden, deren Schönheit sehr abstrakt und auch distanziert ist, aber gerade dadurch unmittelbar die Gefühle anspricht und Freude und Wärme vermittelt.“ Obwohl schon einige Jahre alt und bereits vielfach zitiert, ist diese Bemerkung Unsuk Chins nach wie vor geeignet, die Faszination und die unmittelbare Wirkung, die von ihrer Musik ausgeht, mit wenigen Worten anzudeuten.

Chins Werke bringen Vorstellungen und Ideen aus verschiedensten Erfahrungsbereichen zusammen. Kraftvolle Imaginationen und traumhafte Visionen verbinden sich hier mit einem präzis kalkulierenden Strukturdenken, was ihre Musik hochexpressiv, zugleich aber emotional stets angenehm distanziert und zurückgenommen wirkend lässt. Ihr feines Gespür für instrumentale Klangfarben entwickelte und schärfte Chin auch im Bereich der elektronischen Musik – so konnte sie in den neunziger Jahren am Ircam in Paris arbeiten – und durch die Erfahrungen mit der ‚spektralen‘ Musik etwa eines Tristan Murail, Gérard Grisey oder auch eines Magnus Lindberg. Entscheidenden Einfluss auf sie aber hatte zumal ihr Lehrer György Ligeti. Wie bei ihm liegen auch in Chins Partituren vermeintliches Chaos und strikte Ordnung dicht beieinander, wenn sie mit vertrackten Rhythmen und flirrenden Klangbewegungen, mit akustischen Effekten und Phänomenen der Wahrnehmung spielt. Mit Ligeti teilt Chin nicht zuletzt ihren ausgeprägten Sinn für visuelle Eindrücke und ihr offenes Auge (und Ohr) für vermeintlich Banales oder Alltägliches.

Als international gefragte Komponistin ist Unsuk Chin in den Metropolen der Welt unterwegs. Vielleicht war es ein nächtlicher Gang durch die Stadt, womöglich auf dem Heimweg von einem Konzert zum Hotel, bei dem sich ihre Aufmerksamkeit auf die allerorten präsenten Graffiti und verschiedene Formen der ‚Street Art‘ richtete, die ihr, wie sie sagt, einen ersten Stimulus für das Ensemblewerk Graffiti gaben. Auch wenn der Titel anderes suggeriert: Chins Faszination für diese gewissermaßen ‚ungeschliffenen‘ und fern der Hochkultur artikulierten Ausdrucksformen blieb nurmehr eine erste Inspiration, nicht viel mehr. „Die Musik“, sagt sie, um entsprechenden Fehlschlüssen vorzubeugen, „ist weder illustrativ noch programmatisch.“ Wie Chin andeutet, beeinflussten bzw. verstärkten jedoch die Eindrücke von Graffiti und Street Art wie ein Katalysator einige Grundzüge des Werks, vor allem etwa die Vielschichtigkeit des kontrastreichen, palimpsestartigen Neben- und Miteinander verschiedener Texturtypen, ja überhaupt eine musikalische Sprache, die – wie Chin es formuliert – sich „zwischen Ungeschliffenheit und Kultiviertheit, Komplexität und Transparenz“ bewege.

„Die Titel der Sätze“, so Chin, „deuten die wechselnden Ausdrucks formen, Stimmungen und Strukturen der Musik an. Der erste Satz, Palimpsest, ist ‚poly-dimensional‘ und vielschichtig; man kann Anspielungen an eine Vielfalt von Stilen heraushören, die aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgelöst und kaleidoskopartig einander gegenübergestellt wurden. Der zweite Satz, Notturno urbano, bildet einen starken Kontrast zum hyperaktiven vorangehenden Satz. Er beginnt mit entfernten, allmählich sich annähernden glockenähnlichen Klängen, aus denen das musikalische Material des gesamten Satzes abgeleitet ist: aus ihren Resonanzen bilden sich einfache intervallische Verhältnisse, die von immer mehr Instrumenten übernommen werden. Demzufolge schwankt die Musik zwischen Einfachheit und hochkomplexer Mikropolyphonie. Die Instrumente werden immer wieder in unkonventioneller Weise behandelt: Die Bläser wie auch die Streicher wenden erweiterte Spieltechniken an, die zur Distanziertheit und Rätselhaftigkeit dieses Satzes beitragen. Der hochvirtuose dritte Satz ist eine Art ‚urbane Passacaglia‘ […]. Formal spielt das Modell der Passacaglia die zentrale Rolle in dem gesamten Satz. Dieser besteht aus acht prägnanten Akkorden, die kontinuierlich von den Blechbläsern gespielt werden, wenn auch stets auf eine andere Art und Weise. Zwei Welten prallen in diesem Satz aufeinander: Die Blechbläser-Attacken werden kommentiert von verhuschten Zwischenrufen verschiedener Instrumente, die stark im Charakter und in ihrer Dauer variieren.“

Andreas Günther

Sonntag | 9. Juni 2013 | 20 Uhr
Köln | Funkhaus am Wallrafplatz
Konzerteinführung 19.30 Uhr

musikFabrik im WDR | 46 | Coyote Blues

Magnus LindbergCoyote Blues (1993)
für Kammerorchester

Yan Maresz | Tutti (2013)
für Ensemble und Elektronik
Deutsche Erstaufführung | Kompositionsauftrag von Françoise und Jean-Philippe Billarant, Ensemble musikFabrik und Kunststiftung NRW

Unsuk ChinGraffiti (2013)
für großes Ensemble
Deutsche Erstaufführung | Kompositionsauftrag von Los Angeles Philharmonic Association, Barbican, Orchestra Ensemble Kanazawa, Ensemble musikFabrik und Kunststiftung NRW

Ensemble musikFabrik
Thomas Goepfer | IRCAM Sound designer
Maxime Lesaux | IRCAM Sound engineer
Yann Bouloiseau | IRCAM Sound assistant
Peter Rundel | Dirigent

Karten sind bei KölnTicket erhältlich.